Ausbeutung migrantischer Erntearbeiter in Kalabrien, FUgE news 3/2023

Veränderung oder Persistenz der Ausbeutung migrantischer Erntearbeiter in Kalabrien?
von Dr. Gilles Reckinger
In: FUgE news 3/2023 unter https://fuge-hamm.org/2023/07/01/fuge-news-ausgabe-03-2023

Zwischen rechtsextremer Regierungskoalition, radikalisierter europäische Abschottungspolitik und zivilgesellschaftlichem Engagement.

Seit mehr als zehn Jahren begleite ich die Lebenswelten der migrantischen Erntearbeiter*innen in und die Entwicklungen um die Slums in der kalabrischen Ebene von Gioia Tauro und hier insbesondere der Stadt Rosarno und ihrer Umgebung im Zuge meiner ethnographischen Langzeitforschungen.
Die systematische Entrechtung von Bootsflüchtlingen und anderen Migrant*innen, meist aus dem subsaharischen Afrika, die in Italien stranden, in Kombination mit den neoliberalisierten Produktions- und Vertriebsbedingungen in der industriellen Lebensmittelproduktion führen zu erheblichen Ausbeutungsverhältnissen und schaffen eine neue Reservearmee an verfügbar gemachten Arbeitskräften, die unter sklavereiähnlichen Bedingungen leben und arbeiten.
Die Zustände in den Slums um Rosarno verschlimmern sich seit dem Versagen der europäischen Solidaritat seit 2015 kontinuierlich und drastisch. Auch wohlhabende Gemeinden in Norditalien verweigern immer öfter die ohnehin mehr schlecht als recht funktionierende Aufnahme von anerkannten Flüchtlingen, die dann im Süden hängen bleiben oder mangels Alternativen in den dortigen Slums landen. Damit verändert sich auch die demographische Zusammensetzung in den Slums. Es sind nun mehr ältere Männer da, die oftmals perfekt Italienisch sprechen, vor allem aber deutlich mehr Frauen. Viele sind offensichtlich noch minderjährig. Trotzdem sind sie allein unterwegs. Der Ausdruck ihrer Augen lässt nur erahnen, was sie erlebt haben.
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Viele Menschen sind körperlich und/oder psychisch krank. Diese Erkrankungen, die oft erst hier, in dieser Realität erzwungener Beengtheit entstehen, bleiben vom europäischen Medizinsystem unerkannt und unbehandelt. Es sind Effekte von in Europa erzeugten Traumatisierungen. Die weitgehend fehlenden Hilfestellungen im medizinischen Bereich fassen psychiatrische Probleme ohnehin überhaupt nicht.
In Rosarno wurden die seit 2017 mit EU-Mitteln gebauten Häuser, in denen migrantische Erntearbeiter* innen untergebracht werden sollten und die seit mehreren Jahren fertiggestellt sind, noch immer nicht eröffnet worden. Der Bürgermeister von Rosarno behauptete zuerst, dass man diese Menschen nicht in der Gemeinschaft der Einheimischen haben wolle und dass man die Häuser stattdessen den Italiener* innen zur Verfügung stellen solle. Während die rechtlichen Verfahren noch andauern, überwuchert die Natur das Gelände bereits. Die Umgebung und die Bausubs – tanz der Gebäude sind inzwischen schon beschädigt. Ein örtlicher Aktivist sagte mir, dass er nicht mehr daran glaube, dass die Gebäude jemals genutzt werden.
Dies ist umso dramatischer, als sich die Lebensbedingungen im alten Containerlager von 2010/2011 und in der Zeltstadt von 2017 weiter verschlechtert haben. Auch wenn schon in den Jahren zuvor im Sommer die zurückgebliebenen Bewohner* innen weiter verelendeten und hungerten und die hygienischen Bedingungen immer bedenklicher wurden: seit dem Sommer 2022 wird die Situation unhaltbar. Der schreckliche Gestank, die Hitzewelle, der Müll überall und immer mehr streunende Katzen und Hunde. Die Sanitärcontainer sind mittlerweile völlig verrostet, und der immer schlechtere Zugang zu fließendem Wasser verschärft die Probleme bei der Aufrechterhaltung der elementaren (Körper-)Hygiene.

Der Container der ehemaligen Verwaltung der Zeltstadt mit dem Scanner, der den Zutritt der Bewohner* innen kontrollieren sollte, ist verlassen. Die anwesenden Bewohner* innen können mir nicht sagen, seit wann sich hier niemand mehr aufhält. Außerhalb des Lagers gibt es jedoch inzwischen auch einen Container der Caritas und einen weiteren einer NGO, die Italienischkurse anbietet. Während meines Aufenthalts ist nie jemand da und alles bleibt geschlossen. Ein Feuerwehrauto steht seit einem Brand in der Zeltstadt im Jahr 2021 Tag und Nacht außerhalb des Lagers. Die Feuerwehrmannschaften wechseln sich ab, aber sie interagieren nicht mit den Bewohner*innen, die völlig auf sich allein gestellt sind. Kranke liegen in der unerträglichen Hitze lethargisch auf Matratzen vor den Zelten. Schon von weitem schlägt einem ihr unangenehmer Körpergeruch entgegen, was früher nicht vorkam. Insgesamt sind in der Zeltstadt seit 2022 im Gegensatz zu früher mehr Spannungen zu spüren, vor allem am späten Vormittag und vor den Wochenenden, vielleicht weil sich die Menschen zu diesen Zeiten mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass sie an diesem Tag oder das ganze Wochenende über keine Arbeit mehr finden werden. Menschen in psychischer Not schreien, einige stoßen Drohungen gegen alle Bewohner* innen, gegen die Autoritäten und gegen mich aus, die jedoch nicht in tatsächlichen Gewalttaten enden, sondern sich eher in ein allgemeines Delirium verwandeln.
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Das Lager soll dem Vernehmen nach bald abgerissen werden, aber weder die Bewohner*innen noch die NGOs wissen von konkreten Plänen oder Alternativen, die in Vorbereitung wären. Ein Gewerkschaftler erklärt, dass es ohnehin nichts nützen würde, wenn dann ein neues Lager direkt daneben errichtet würde. Dennoch fordern zu meiner Konsternierung die Gewerkschaften und lokalen NGOs nicht die Öffnung der EU-finanzierten Häuser, die die Situation entschärfen könnten. Es scheint, als wäre in der Vorstellungswelt der hiesigen lokalen Akteur*innen jede Lösung undenkbar.

Im Januar 2023 sollen nach Medienberichten weitere Unterkünfte mit Platz für 93 Personen in Betrieb gegangen sein, ich konnte mir noch kein eigenes Bild machen, und die Männer, mit denen ich in regelmäßigem Kontakt bin, kennen den Ort nicht. Bei mehr als 3.000 Personen wäre es ohnehin nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Auch wenn der Staat kapituliert zu haben scheint, kommen regelmäßig Patrouillen der Polizei oder der Carabinieri in der Umgebung der Slums vorbei – hinein gehen sie nicht. Zweimal sprechen sie mich an und wundern sich, dass es einem Europäer einfallen kann, hierher zu kommen, um sich für „sie“ zu interessieren, wie sie die Lagerbewohner* innen nicht ohne Verachtung bezeichnen. Ihre Aufgabe ist es, bereit zu sein, bei Rempeleien zwischen den Bewohner*innen einzugreifen, was jedoch nur sehr selten vorkommt, während es ständig rassistische Angriffe von Einheimischen gibt, die nie von der Polizei geahndet werden.
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Seit einigen Jahren sind ein paar wenige Organisationen und Unternehmen entstanden, die Zitrusfrüchte produzieren und die Rechte ihrer Arbeiter*innen einhalten und ihre Situation regularisieren. Zum Teil vertreiben sie ihre Produkte auf direktem Weg auch ins Ausland. Aus den Erlösen entstehen nach und nach kleine Initiativen, um auch die Wohnverhältnisse zumindest der eigenen Angestellten zu verbessern. Eine andere Organisation vermittelt seit 2022 zwischen Arbeitgeber*innen aus ganz Italien und den Slumbewohner*innen, um die Menschen in reguläre Arbeitsverhältnisse zu bringen und ihnen zu ermöglichen, Rosarno zu verlassen.
Es ist noch zu früh, die langfris – tige Wirksamkeit solcher Maßnahmen zu beurteilen. Deutlich wird jedoch bereits jetzt, dass die Lage jener Menschen, die auch im Sommer in Rosarno festsitzen, immer dramatischer wird. Es besteht die Gefahr, dass diejenigen, die schwer vermittelbar sind, weil sie körperliche, psychische oder Suchterkrankungen haben, künftig unter erschwerten Bedingungen in den Zeltstädten überleben müssen. Mit dem Wegzug von immer mehr Menschen drohen auch die urbanen Strukturen zusammenzubrechen.

Im Sommer und im Herbst 2023 erzählen mir einige der Arbeiter, dass sich der Verdienst in der Ernte der Zitrusfrüchte erhöht habe. Nachdem die letzten 20 Jahre immer nur ein Euro für eine Kiste mit 22 kg geernteten Clementinen gezahlt wurde, seien es seit der letzten Saison bis zu 1,50 Euro (bei Orangen sind die Preise nochmals um ca. 50% niedriger). Die Bewohner* innen führen die Lohnsteigerung auf das Engagement der Gewerkschaften und meine Forschungen und meine Sensibilisierungsarbeit zurück. Womöglich hängt sie jedoch in stärkerem Ausmaß mit den steigenden Weltmarktpreisen aufgrund einer bakteriellen Krankheit (Citrus Greening) zusammen, die sich in Amerika, Asien und Afrika in den Zitrusplantagen ausbreitet, und die Europa bislang verschont hat.
Ob es zu einer strukturellen Verbesserung der Verhältnisse kommt, bleibt abzuwarten, ist aber aufgrund der vor wenigen Wochen beschlossenen zunehmenden Radikalisierung der Abschottungsbemühungen im Rahmen der europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik sowie der postfaschistischen Regierungskoalition in Italien, die ihre Macht weitgehend der Institutionalisierung der Angst- und Notstandsdiskurse verdankt, mehr als fraglich.

Von Dr. Gilles Reckinger
In: FUgE news 3/2023 unter https://fuge-hamm.org/2023/07/01/fuge-news-ausgabe-03-2023