Raus aus dem Rückstand! Manfred Belle, FUgE news 3/2023

„Raus aus dem Rückstand! Zweite Halbzeit für die SDG“
von Mafred Belle
Auszüge aus einem Impulsvortrag bei der Auszeichnungsveranstaltung der BNE-Zertifizierung NRW am 25. Mai 2023 in Hamm.
FUgE news 3/2023 unter https://fuge-hamm.org/2023/07/01/fuge-news-ausgabe-03-2023

Leider beginnt dieser Impuls mit einer schlechten Nachricht. Die Welt ist im Rückstand, wenn es darum geht, die Ziele für Nachhaltige Entwicklung für das Jahr 2030 zu erreichen. Das kommt für viele nicht unerwartet. Auch vor Corona und vor dem Krieg gegen die Ukraine waren viele Engagierte in dieser Hinsicht schon eher kritisch.
Ich habe dazu jetzt mehrfach dem Experten Jens Martens gesprochen, der für das Global Policy Forum die Fortschritte zu den SDGS auswertet und der die Ergebnisse allen Engagierten zu Verfügung stellt. Sein Projekt dazu wird von der Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen gefördert.
Wenn man Jens Martens fragt: Haben die SDGS auf nationaler und internationaler Ebene die politischen und wirtschaftlichen Strukturen hin zu mehr Nachhaltigkeit verändert? Dann ist seine Antwort: Leider kaum.

Auf internationaler Ebene gibt es keine Hinweise, dass die SDGS die Position ärmerer Länder gestärkt haben. Wo Regierungen ihre Strategien in Richtung Nachhaltigkeit geändert haben, hat das meistens wenig mit den SDGS zu tun, auch wenn solche Änderungen nachträglich gern mit dem SDGS-Label versehen werden. Und wo die SDGs in Konzepte und Programme integriert wurden, habe das nicht zu neuen Ansätzen geführt, für die sich die Ressorts untereinander abstimmen, so Jens Martens und sein Projektteam.
manfred-belle-bild-1Nochmals: Es sieht leider nicht gut aus zur SDGS-Halbzeit. Vor allem wegen der Corona-Pandemie und der höheren Nahrungsmittelpreise. Das wird schon beim Ziel Nummer eins deutlich, „keine Armut“: Dem ist die Welt nicht nähergekommen, sondern wir müssen sogar bis zu 95 Millionen Menschen zusätzlich in Armut verzeichnen.

Bei den SDGS zu Hunger, Schulbildung und Gesundheit hat sich die Lage ebenfalls verschlechtert. Die Pandemie und die Kriege, vor allem jener in der Ukraine, ziehen öffentliche und private Mittel und die politische Aufmerksamkeit auf sich. Die Welt hinkt auch dort hinterher, wo es um die Bewältigung der Klimakrise, um den Umbau der Energiesysteme und um das SDGS 15 – Leben an Land und Artenschutz – geht.
Ähnliches berichtete im Frühjahr 2023 auch Imme Scholz, die Vorsitzende der United Nations Independent Group of Scientists, als sie den Weltnachhaltigkeitsbericht 2023 vorstellte. Dieser Global Sus – tainable Development Report gilt als das wissenschaftliche Flaggschiff unter den Nachhaltigkeitspublikationen der Vereinten Nationen.

Aber woran bemisst sich überhaupt der Begriff „Rückstand“? Die SDGs waren nie ein „Masterplan“, der planmäßig in 15 Jahren umgesetzt wird von den Vereinten Nationen und den Regierungen der Länder, von untergeordneten politischen Ebenen bis zu Städten und Gemeinden sowie Unternehmen, Konzernen, Zivilgesellschaft und überhaupt allen Menschen auf dieser Welt. Die SDGS sind auch in der Halbzeit das, was sie zu Beginn schon waren: als Zielkatalog sehr vielfältig, sehr schwierig, teilweise sogar widersprüchlich und eben auch mit inneren Zielkonflikten versehen. Die SDGS lassen die Konflikte nicht verschwinden. Nicht die politischen, nicht die geostrategischen und auch nicht die ökonomischen Interessenkonflikte. Diese werden weiter ausgefochten. In jedem Gesetzgebungsverfahren, in internationalen Handelsverträgen, in Konsum-Entscheidungen, und leider oftmals sogar in Kriegen.

Und dennoch bleiben die SDGS fürs Engagement nützlich: als übergeordnete Zielformulierung für Eine Welt, wie wir sie wollen und wie sie zum Überleben eines großen Teils der Menschheit nötig ist. Wichtig ist, dass die SDGS in vielen Ländern zivilgesellschaftlichen Kräften dazu dienen, ihre Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen. Und überhaupt: in vielen Städten auf der Welt haben die SDGS tatsächlich messbare Veränderungen angestoßen!
UN-Generalsekretär António Guterres hat in seinem Report „Our Common Agenda“ vom September 2021 eine breite Palette von Initiativen vorgeschlagen, um auf die Defizite und blinden Flecken bei der Verwirklichung der SDGS und die weltweite „Kaskade von Krisen“ zu reagieren. Das soll der Umsetzung der SDGS zusätzlichen Schwung verleihen, aber auch Themen behandeln, die in der Agenda 2030 unterbelichtet geblieben sind.

Wenn wir die multiplen Krisen noch bewältigen wollen, dann sind diese 17 Ziele für Nachhaltigkeit unsere Überlebensausstattung. Siezeichnen ein positives Zukunftsbild und das haben alle Regierungen der Welt im Vorfeld des Beschlusses im Jahr 2015 gemeinsam erarbeitet. Hier kann man also immer noch von einer wirklichen Staatengemeinschaft sprechen trotz geopolitischer Konflikte und neuer Nationalismen. Deshalb sollte man die SDGS als Errungenschaft des Multilateralismus auch nichtkleinreden oder gar vorschnellganz beiseitelegen. manfred-belle-bild-2

Was bedeutet diese Halbzeit – bilanz für unsere Bildung für Nachhaltige Entwicklung?
Nehmen wir als Beispiel das SDGS Nummer 2: Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern.
„Welternährung“ – dieses Themenfeld wird fast immer entlang politischer „Framings“ diskutiert. Wirtschaftliche Interessengruppen und NRO besetzen das Thema mit ihrer jeweils eigenen Agenda. Sie über- oder unterbetonen jeweils einzelne Aspekte der Problemlösung, damit die Fakten zu ihren Grundeinstellungen passen. Somit hat man viele Parolen schon allzu oft gehört: „Lebensmittelabfälle global vermeiden“ / „Das Land den Kleinbauern“ / „Mehr Gentechnik“ / „Keine Gentechnik“ / „Gerechte Welthandelspolitik“ / „Quantensprünge durch Digitalisierung“ / „Mehr Geld gegen den Hunger“ / „Traktoren für Afrika“ / „Wir müssen weniger Fleisch essen“…
Und wenn sich diese Forderungen widersprechen, dann gibt es Streit, und dann werden diese Diskurse oft intellektuell unbefriedigend, nämlich argumentativ verkürzt, moralisch überladen, emotionale Betroffenheit schürend oder auf Einzelschicksale reduziert.
Tatsächlich greifen die meisten gängigen politischen Narrative immer dann zu kurz, wenn sie ganz allgemein gültige Antworten versprechen auf Fragen wie: „Gentechnik ja oder nein?“ / „Kleinbauern oder Investoren?“ / „Agrarexporte nach Afrika ja oder nein?“.
In den Medien sind solche „Entweder- Oder-Fragen“ willkommen, doch die Diskurse und Fakten gewinnen erst dann an Aussagekraft, wenn sie in einen klar definierten Kontext gestellt werden! Das unterscheidet Bildungsprojekte von Polit- Talkshows.
Die Diskurse sind viel wirksamer, wenn sie sich z. B. auf eine konkrete Region beziehen oder gar auf einen Ort, und dort z.B. auf ein konkretes Saatgut oder eine Technik.

Zwei Entwicklungslinien scheinen zum Beispiel auf dem Weg zum SDGs 2 gegen den Hunger sinnvoll zu sein. Sie könnten als globale Säulen sogar die Welternährungspolitik tragen: Eine Kreislaufwirtschaft der Nährstoffe und die konsequente Vermeidung von Lebensmittelabfällen. Es wird viel interessanter, wenn es ins Detail geht. Deshalb geht es jetzt im Sturzflug aus der großen Flughöhe der Vereinten Nationen und der Weltpolitik kurz runter aufs Feld und auf den Teller.

So könnte eine Welt aussehen, die dem SDGs 2 und auch dem SDGs 15 zum Artenschutz viel nähergekommen ist:
Die „Verschwendungslandwirtschaft“ wurde zur „Präzisionslandwirtschaft“. Mit sparsamer Wurzelbewässerung, mit datenbasierten Dosierungen für Düngung und Pflanzenschutz, mit Robotern und Drohnen, die jäten und gießen sowie düngen und ernten und die dabei viel Arbeitskraft einsparen. Kreislaufwirtschaft, das wäre wirklich eine historische agrartechnische Revolution: Der Anbau wandert dabei zum Teil vom Land in die Stadt.

Die Lebensmittelerzeugung in Indoor-Farmen wird an Bedeutung gewinnen. Dazu zählt die Versorgung mit Abwärme, mit Erdwärme und mit Strom aus erneuerbaren Energien. Die kommenden urbanen Farmen werden gekoppelte Anlagen sein, in denen z. B. Pflanzen, Insekten und Fische parallel und stofflich verbunden erzeugt werden, vielleicht auch angeschlossen an Klärwerke, von wo sie ihren aufbereiteten Dünger beziehen.
Gegenwärtig leistet die Welt sich noch gigantische Verschwendungen. Welternährung ist heute in weiten Teilen noch ein veraltetes System von fossilen Energieströmen und dabei vor allem abhängig von Erdgas, Erdöl, Kali und Phosphor. Eine Welt, die den SDGs 2 und 15 viel nähergekommen ist, wird sich davon verabschiedet haben.

Die Qualität von Bildung für Nachhaltige Entwicklung messe ich auch daran, ob wir gute Geschichten zu den SDGs erzählen. Geschichten, die als Anker im Kopf bleiben. Die Menschen ermutigen und aktivieren.
Die Qualität von Bildung für Nachhaltige Entwicklung kann man außerdem steigern, indem man sich damit befasst, wie Überzeugungen entstehen und welche kognitiven Verzerrungen unsere Grundüberzeugungen verursachen. Wenn wir uns ein Bild von der Wirklichkeit machen, sitzen wir vielen Irrtümern auf, den kognitiven Verzerrungen. Davon sind wir auch als Gestalter*innen von Bildungsprozessen nicht frei.
Den vollständigen Text finden Sie hier => 2023-05-25_Belle-Vortrag-in-Hamm_SDG-Halbzeit