Verständnis der kolonialen Kontinuität – Geschichte und Gegenwart

Marcos Antonio da Costa Melo
In: FUgE-News 2/2024

Verständnis der kolonialen Kontinuität
Marcos A. da Costa Melo zu seiner Geschichte

Propagandamarke-der-deutschen-Industrie-1925Ein Interview der FUgE news-Redaktion mit dem Interkulturpromotor des RB Arnsberg über seinen Beitrag zur Ausstellung „Das ist kolonial. – Westfalens unsichtbares Erbe“, die am 13. Juni 2024 im LWL-Museum Zeche Zollern Dortmund eröffnet wurde und bis zum 26. Oktober 2025 zu sehen ist.
Durch ihre partizipativen Ansätze und künstlerischen Werke bietet die Ausstellung neue Perspektiven an. 30 Hörstationen, 50 Biografien und 250 Objekte lassen die koloniale Geschichte Westfalens erzählen: Unternehmer und Industrielle trieben die deutsche Kolonialpolitikvoran, Kaufleute handelten mit Kaffee und Tee. Menschen aus der Region zogen als Missionare, Farmer oder Soldaten in die Kolonien. Viele gingen zu Völkerschauen, spendeten für Denkmäler oder benannten Straßen nach kolonialen Akteuren. Dieser Lernort macht deutlich, wie die Folgen des Kolonialismus auf unsere Gesellschaft bis heute wirken und somit Geschichte und Gegenwart miteinander verknüpft sind.

FUgE news: Kannst Du einige Sätze zu Deiner Herkunft und zu Dir sagen?
Marcos Antonio da Costa Melo: Ich bin 1965 in Recife, einer Stadt von über 1,5 Millionen Menschen in Nordosten Brasiliens, geboren. Wir waren zehn Kinder, die zwei Zimmer teilten und in verschiedenen Stadtteilen wohnten. Ende der 80er Jahre absolvierte ich mein Lehramtstudium der Geschichte an der Bundesuniversität von Recife und zog später mit meiner deutschen Frau nach Deutschland. Mitte der 90er Jahre schloss ich mein Magis – terstudium der Geschichte an der Uni Bielefeld ab. Danach arbeitete ich als Referent für Entwicklungszusammenarbeit im Welthaus Bielefeld, und seit 2005 bin ich beim FUgE-Netzwerk angestellt. Zuerst habe ich das Bildungsprojekt „Wasserwelten“ geleitet und dann als Regionalpromotor für Eine-Welt- Arbeit in der Hellwegregion. Seit 2019 bin ich Interkulturpromotor im Regierungsbezirk Arnsberg.
Was hat Kolonialismus mit Dir zu tun?
Marcos: Kolonialismus ist überall präsent. Ein bestimmender Teil meiner Kolonialgeschichte hat mit der portugiesischen Kolonisierung Brasiliens zu tun. Ich denke dabei an die Architektur, Kolonialkirchen oder den Hafen von Recife, der vom Export unter anderem von Soja, Eisenerz, Zuckerrohr, Zellulose, Baumwolle lebt. Der Kolonialismus hat mich mit seiner Wirtschafts-, Sozial- und Gewaltstruktur stark geprägt.
Wo begegnet Dir Kolonialismus privat?
Marcos: Vor allem wenn ich an meine Kultur des Nordostens Brasiliens und an meine Familiengeschichte denke. Zum Beispiel: Meine Urgroßmutter arbeitete als Hausmädchen in Salgueiro, in einem Trockengebiet bei Petrolina, und kannte ihre Eltern nicht. Über ihre genauere Herkunft wissen wir nicht viel. Mein Urgroßvater war ein Indigener, der kaum Portugiesisch sprach. Dieses Unbekannte ist ein Teil der durch den Kolonialismus verlorenen Familiengeschichte.
Wie ging Deine Familie damit um?
Marcos: Es wurde nie richtig über unsere Herkunft erzählt. Schon als Kind wunderte ich mich, dass meine Mutter abwertend über Indigene sprach: Sie seien nicht liebevoll oder würden die Frauen nicht gut behandeln. Es gab dagegen eine Aufwertung der Menschen aus Europa. Zuletzt war es mir ersichtlicher, als ich im Oktober 2023 das Institut Ricardo Brennand in Recife besuchte, wo Kunstwerke von Europäer*innen verherrlicht wurden und die Kunst der Einheimischen keinen Platz fand. Es gibt hier keine tiefgreifend kritische Aufarbeitung unserer Kolonialgeschichte.
Inwiefern spielt das Thema Kolonialismus für Dich beruflich eine Rolle?
Marcos: In meiner Interkulturarbeit stelle ich häufig fest, dass die Folgen des Kolonialismus katastrophal für die Kolonien in Lateinamerika und Afrika sind. Ich gehe da – rauf ein, wie der Kolonialismus Europas nicht nur alle möglichen Winkel der Erde erschlossen, Versklavung und Ausbeutung von Menschen und Natur vorangetrieben, aber auch wie er zahlreiche nachhaltige Lebensweisen traditioneller Gemeinschaften weltweit vernichtet hat. Dabei verbreitet er durch wirtschaftliche Ungleichheit sowohl Armut und Flucht als auch Ungerechtigkeit und einen imperialen Lebensstil nicht nur in Europa. Der Klimawandel ist die Spitze des Eisbergs des Kolonialismus. Ohne die Aufarbeitung der Geschichte des Kolonialismus können wir weder ernsthaft die Welt verstehen noch die Missstände bewältigen.
Worüber sollten wir sprechen, wenn wir über (Post-)Kolonialismus sprechen?
Marcos: Wir sollten darüber sprechen, dass es koloniale Kontinuität weiterhin gibt, die in unterschiedlichen Ebenen gebrochen werden muss. Die Fehler der Vergangenheit sind also nicht vergangen.
Was hat die Kolonialgeschichte Westfalens mit Dir direkt zu tun?
Marcos: Direkt hat Westfalen für mich mit der Geschichte von Johann Moritz Fürst von Nassau-Siegen zu tun, der von meinem Geburtsort Recife zwischen 1630 und 1654 über die Niederländische Westindien- Kompanie über Nordosten Brasiliens herrschte.

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