01.12.2020: Zum Gemeinwohl!

von Christian Felber
FUgE-News Ausgabe 03/2020

Die Bewegung der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) hat sich seit 2010 von Österreich, Bayern, Südtirol und Teilen der Schweiz auf 33 Staaten ausgebreitet. Immer mehr Unternehmen, Kommunen und Bildungseinrichtungen beteiligen sich. Kann die GWÖ das Wirtschaftsmodell der Zukunft werden?

Nicht nur die Demonstrierenden an Fridays for Future wünschen eine Änderung der aktuellen Wirtschaftsweise. Eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung ergab, dass 88 Prozent der Menschen in Deutschland und 90 Prozent in Österreich eine „neue Wirtschaftsordnung“ wünschen. Die Gemeinwohl- Ökonomie ist ein innovatives, nachhaltiges Wirtschaftsmodell, das seit 2010 international Resonanz erzeugt. Die tragenden Säulen der Gemeinwohl-Ökonomie sind dabei nicht „neu“, sondern zeitlose Ziele und Verfassungswerte. Die bayrische Verfassung besagt: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl.“ (Art. 151) Das Grundgesetz sieht vor, dass „Eigentum verpflichtet“ und „sein Gebrauch zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll“ (Art. 14).

Gemeinwohl-Produkt und Gemeinwohl-Bilanz
Das Gemeinwohlziel wird aber heute in der realen Wirtschaft nicht gemessen. Es fehlen die geeigneten Erfolgsparameter. Heute bilden das Bruttoninlandsprodukt (Volkswirtschaft), der Finanzgewinn (Unternehmen) und die Finanzrendite (Investition) die zentralen Erfolgsmaßstäbe. Sie messen jedoch nur die Verfügbarkeit der Mittel und können daher gar nichts Verlässliches über die Zielerreichung aussagen. Künftig könnte ein „Gemeinwohl- Produkt“, das sich zum Beispiel aus Indikatoren für Gesundheit, Wohlbefinden, Bildung, Teilhabe, sozialer Zusammenhalt, ökologische Stabilität, Sicherheit und Friede zusammensetzt, direkt die Zielerreichung und damit den „Erfolg“ einer Volkswirtschaft messen. Das Gemeinwohl-Produkt könnte direkt von der Bevölkerung, etwa in Bürger*innenräten, komponiert werden. Einer Umfrage des Bundesumweltministerium zufolge befürworten nur 18 Prozent das BIP als höchstes Ziel der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Hingegen befürworten 67 Prozent seine Ablöse durch einen umfassenderen Lebensqualitätsindex. Wenn das Gemeinwohl-Produkt steigt, ist die Verbesserung wesentlicher Aspekte von Lebensqualität gewiss. Ein Anstieg des BIP garantiert hingegen keine Verbesserung von Umwelt- oder Lebensqualität, Sinn, Friede oder Demokratie.

Analog dazu wird der Erfolg eines Unternehmens mit einer „Gemeinwohl-Bilanz“ gemessen. Diese bewertet, wie sich Unternehmen in Bezug auf die Ziele Klima- und Artenschutz, menschenwürdige Arbeitsbedingungen, sozialer Zusammenhalt und Verteilungsgerechtigkeit, Beziehungsqualität und Geschlechterverhältnis verhält. Jedes Unternehmen kann maximal 1000 Punkte erreichen. Je besser das Ergebnis der Gemeinwohl-Bilanz eines Unternehmens, desto niedrigere Steuern, Zölle, Zinsen zahlt es, oder es erhält Vorrang beim öffentlichen Einkauf und in der Wirtschaftsförderung – auch zum Beispiel aktuell bei den Corona-Hilfen. Mithilfe dieser Anreize werden die ethischen Produkte preisgünstiger als die unethischen. Die „Gesetze“ des Marktes würden nicht länger mit den Werten der Gesellschaft konfligieren, sondern überein – stimmen.

Gewinne als Mittel
Die Finanzbilanz bliebe erhalten, aber das Gewinnstreben könnte differenziert reguliert werden: Nach wie vor verwendet werden dürfen Gewinne für soziale und ökologisch wertvolle Investitionen, Kreditrückzahlungen, begrenzte Ausschüttungen an die Mitarbeitenden oder Rückstellungen. Nicht mehr erlaubt werden könnten hingegen feindliche Übernahmen, Parteispenden sowie Ausschüttung an Personen, die nicht im Unternehmen mitarbeiten – mit Ausnahme der Gründer(inn)en für deren Altersvorsorge.

Um die Konzentration von Kapital und Macht und damit einhergehende übermäßige Ungleichheit zu verhindern, könnten zudem „negative Rückkopplungen“ bei Einkommen, Vermögen und Unternehmensgröße eingebaut werden: Während Menschen beim Start in das Wirtschaftsleben gefördert werden, wird mit zunehmender Größe und Macht das weitere Reicher- und Größerwerden immer schwieriger bis zu einer relativen Einkommens- oder absoluten Vermögensobergrenze. Die erste Million wäre die leichteste, jede weitere immer schwerer bis zum gesetzlich festgelegten Maximum. Die Begrenzung der Ungleichheit dient primär der Verhinderung der Überkonzentration von ökonomischer und politischer Macht – sie ist auch ein liberales Gebot, nicht nur eines der Gerechtigkeit. Die Gemeinwohl-Ökonomie versteht sich deshalb nicht nur als ethische, sondern auch tatsächlich liberale Marktwirtschaft, weil sie gleiche Rechte, Freiheiten und Chancen für alle konsequent fördert und schützt.

Kooperation statt Konkurrenz
Im größeren Bild möchte die Gemeinwohl- Ökonomie die Anreizkoordinaten für Wirtschaftsakteure von Gewinnstreben und Konkurrenz auf Gemeinwohlstreben und Kooperation umstellen. Die gegenwärtige Dynamik, durch die Marktteilnehmende im Gegeneinander den höchsten Finanzgewinn anstreben, ist der Systemfehler schlechthin und die Ursache für die lange Liste von Kollateralschäden der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung. Gier, Geiz, Neid, Rücksichtslosigkeit und Verantwortungslosigkeit grassieren nicht etwa deshalb, weil dies der Menschennatur entspräche, sondern weil es auf Märkten belohnt wird. Intelligent designte Märkte belohnen menschliche Tugenden und Beziehungswerte wie Ehrlichkeit, Respekt, Vertrauensbildung, Kooperation und Teilen. Entgegen dem Menschenbild der neoklassischen Ökonomie gibt es breite wissenschaftliche Evidenz, dass Kooperation stärker motiviert als Konkurrenz. Der Grund dafür ist: Kooperation motiviert über ge – lingende Beziehungen, während Konkurrenz primär über Angst motiviert. Die Gemeinwohl-Ökonomie schlägt konkret vor, dass aggressive Formen des Gegeneinander- Agierens wie feindliche Übernahmen, Preisdumping oder Sperrpatente negativ angereizt werden; unsolidarisches Nebeneinander soll leicht negativ, sporadisches Kooperieren leicht positiv und systemisches Kooperieren stark positiv angereizt werden sollen. Wörtliche „Konkurrenz“ (zusammenlaufen) und „competition“ (gemeinsam suchen) sollen die gegenwärtige „Kontrakurrenz“ und „counterpetition“ ablösen.

Plurale Eigentumsformen
Während die beiden großen Erzählungen Kapitalismus und Sozialismus jeweils nur auf eine Eigentumsform von entweder Privat oder Staatseigentum setz(t)en, verfolgt die Gemeinwohl-Ökonomie den Ansatz der Vielfalt bei gleichzeitigen Grenzen und Bedingungen für alle Formen. Vorgesehen sind Privateigentum, öffentliches Eigentum, Gemeinschaftseigentum (Commons und auch Gesellschaftsbetriebe) sowie Nichteigentum (an Natur) in Form von Nutzungsrechten und Schutzrechten. So setzt die Gemeinwohl-Ökonomie dem Privateigentum (Größen-)Grenzen und Bedingungen (Gemeinwohl-Bilanz). Staatseigentum soll analog auf strategische Güter, Infrastruktur und Daseinsvorsorge begrenzt bleiben. Für fruchtbare Ökosysteme und erneuerbare Ressourcen könnte gelten: Sie dürfen schonend genutzt werden; gefährdete Ökosysteme und Arten könnten geschützt und von der Nutzung durch den Menschen ausgenommen werden. Die Natur und auch kommende Generationen könnten effektive Schutzrechte erhalten.

Ethischer Welthandel & Ökologische Menschenrechte
Eine konkrete Umsetzung dieser Idee könnten ökologische Menschenrechte sein. Ausgangsbasis ist das Konzept der „planetary boundaries“, welches das Stockholm Resilience Center in die globale Nachhaltigkeitsdebatte gebracht hat. Die britische Ökonomin Kate Raworth wurde von der zugrunde liegenden Grafik zu einem „Doughnut“ inspiriert, der sich aus der (inneren) sozialen Grenze und der (äußeren) ökologischen Grenze zusammensetzt. Im Zwischenraum – dem „safe space“ – könnte sowohl sozial gerechtes als auch ökologisch nachhaltiges Wirtschaften stattfinden.
Ein Pro-Kopf-Verbrauchsbudget im Ausmaß des inneren Limits könnte ein universales und unveräußerliches Grundrecht werden, ein Zusatzrecht bis zum äußeren Limit könnte ein von Mensch-zu- Mensch verkäufliches Recht werden, wodurch von den Ärmsten zu den Reichsten ökologische Kaufkraft und in umgekehrte Richtung finanzielle Kaufkraft fließen könnte: eine globale win-win-Lösung.
Auf internationaler Ebene könnte – dazu passend – das Konzept des „Ethischen Welthandels“ als Alternative zu Freihandel (Handel als Selbstzweck) und Protektionismus (Abschottung) etabliert werden. Handel sollte – wie Kapital – konsequent als Mittel betrachtet und für die Erreichung der übergeordneten Ziele eingesetzt werden. Diese müssen in Handelsabkommen festgeschrieben und ihre Erreichung überprüft und einklagbar werden. Staaten, die sich zum Schutz des Weltklimas und der Artenvielfalt verpflichten und sich einer globalen Gerichtsbarkeit unterwerfen, könnten freier miteinander handeln als Staaten, die dies nicht tun. Die Gemeinwohl-Bilanz wiederum könnte den Zugang von Unternehmen zum Weltmarkt regulieren: Je besser das Ergebnis, desto freier der Marktzugang und umgekehrt – bis zum Ausschluss vom Weltmarkt bei gravierendem Zuwiderhandeln: Duldung von Menschenrechtsverletzungen in der Zulieferkette, Gewinnverschiebung in Steueroasen, Nichteintragung ins Lobby-Register oder Beitrag zu exzessiver Ungleichheit.

Unternehmen und Gemeinden machen mit
Neun Jahre nach dem Start in Österreich, Bayern und Südtirol hat sich die Gemeinwohl-Ökonomie in 33 Staaten ausgebreitet. Insgesamt sind rund 200 Regionalgruppen entstanden, davon allein 70 in Deutschland. Diese „E – nergiefelder“ arbeiten in den Strategiefeldern Wirtschaft, Politik und Bildung mit Unternehmen, Gemeinden, Schulen, Hochschulen und Universitäten in vielfältiger Form zusammen. Rund 600 Pionier- Unternehmen aus allen Branchen, unterschiedlichster Größe und jeder Rechtsform, machen mit: Biogemüsegärtner und landwirtschaftliche Betriebe, mehrere Banken (Sparda Bank München, Sparkasse Dornbirn), Dienstleistungsbetriebe (Satis&fy), sozial – ökonomische Betriebe (Samariterstiftung, Herzogsägmühle) und mittelständische Industriezulieferer (Elobau) oder Outdoorausrüster (VAUDE). Viele Unternehmen wurden mit Preisen bedacht, zum Beispiel das erste Hotel mit Gemeinwohl- Bilanz in Wien („Das Capri“) oder die erste Krankenkasse mit Gemeinwohl-Bilanz („ProVita“). Neben Unternehmen beteiligen sich auch immer mehr Gemeinden und Städte an der Gemeinwohl-Ökonomie. Gemeinwohl-Gemeinden erstellen entweder selbst eine Bilanz oder fördern diese bei privaten Unternehmen und richten danach die öffentliche Beschaffung und Wirtschaftsförderung aus. Zudem können sie mit den Bürger(inn)en einen regionalen Gemeinwohl- Index erstellen, an dem sich die Kommunalpolitik künftig orientiert. Die ersten Gemeinwohl- Gemeinden entstanden in Spanien (Miranda de Azán, Orendain) und Italien (Vinschgau). Die österreichischen Pioniergemeinden Mäder und Nenzing in Vorarlberg wurden 2017 zertifiziert. Erste Gemeinwohl- Gemeinde Deutschlands war das bayerische Kirchanschöring 2018. Die drei Schleswig-Holsteinischen Gemeinden Breklum, Bordelum und Klixbüll erhielten 2019 den Landesumweltpreis. Höxter in Nord rhein-Westfalen strebt im Rahmen eines LEADER-Projekts den Status einer Gemeinwohl-Region an. Kreisstadt Steinheim ist die erste GWÖ-bilanzierte Stadt weltweit.

Souveräne Demokratie als Umsetzungsstrategie
Die Strategie der Gemeinwohl-Ökonomie ist eine dreifache. Zum einen versucht sie durch die Vielzahl von Akteuren und ebenso zahlreicher Synergien von Kaufentscheidungen bis Wirtschaftsförderung ein immer stärkeres nachhaltiges „Ökosystem“ der Gemeinwohl-Ökonomie innerhalb der gültigen Wirtschaftsordnung zu etablieren – um sichtbar zu machen, dass auch anders gewirtschaftet werden kann. Gleichzeitig knüpft die GWÖ an Punkte der repräsentativen Demokratie an, um vom Gemeinderatsbeschluss bis zur UNO immer mehr gesetzliche Weichen in Richtung Gemeinwohl-Ökonomie zu stellen. Bisher nahmen die Regionen Salzburg, Baden- Württemberg, Hessen, Bremen und Valencia die GWÖ in ihr Regierungsprogramm auf. 2015 empfahl der EU-Wirtschafts- und Sozialausschuss in einer Initiativstellungnahme den Einbau der GWÖ in das Recht der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten. Im deutschen Bundestag wurde 2019 der erste Antrag zur Bilanzierung eines Bundesbetriebes gestellt.
Zudem hat sie mit der Idee der „Souveränen Demokratie“ die Weiterentwicklung und Ergänzung der indirekten Demokratie um Elemente und deliberative Prozesse der direkten Demokratie entwickelt. Könnten sich die Bürger*innen in freier Abstimmung zwischen Kapitalismus, Sozialismus und Gemeinwohl-Ökonomie entscheiden, würden sie vermutlich die nachhaltige Mitte wählen. Am Beispiel der Begrenzung der Einkommensungleichheit hat die GWÖ-Bewegung einen spielerischen Prozess entwickelt: Je Spiel werden fünf bis zehn Vorschläge zur Begrenzung der Einkommensungleichheit gemacht – vom „sozialistischen“ Extrem der totalen Gleichheit bis zum „kapitalistischen“ Extrem der grenzenlosen Ungleichheit. Dazwischen wird eine Vielfalt von Vorschlägen gemacht von Faktor drei bis einhundert. Danach wird der Widerstand gemessen, wobei derjenige Vorschlag gewinnt, der den geringsten Widerstand (Schmerz, Freiheitsverlust) auslöst. In neun von zehn Fällen bei bisher 500 Spielen in 25 Staaten gewinnt der Faktor zehn. Das würde bei Umsetzung bedeuten, dass es in einer Gemeinwohl- Ökonomie zwar Ungleichheit gibt, jedoch betragen die höchsten Einkommen maximal das Zehnfache der geringsten Einkommen. Die Strategie der GWÖ besteht darin, solche innovativen Entscheidungsverfahren so lange an der Basis der Bevölkerung einzuüben, bis sie eines Tages z. B. in Form von „Demokratischen Wirtschaftskonventen“ gesetzgebende Wirkung entfalten. An der Entwicklung und Umsetzung einer Gemeinwohl-Ökonomie kann sich jeder Mensch, jedes Unternehmen, jede (Kirchen)Gemeinde und jede Bildungseinrichtung niederschwellig beteiligen.

Christian Felber 47, initiierte 2010 die Gemeinwohl- Ökonomie-Bewegung und der Genossenschaft für Gemeinwohl, die heute das erste Gemeinwohlkonto in Österreich anbietet. Er veröffentlichte insgesamt 15 Bücher und unterrichtete an sieben Hochschulen und Universitäten. Aktuell leitet er als Affiliate Scholar am IASS in Potsdam ein Forschungsprojekt zu nichtfinanzieller Berichterstattung von Unternehmen. Außerdem ist er zeitgenössischer Tänzer und Performer. www.ecogood.orgwww.gemeinwohl.coopwww.christian-felber.at