von Marcos A. da Costa Melo und Volker M. Heins
In: FUgE-News Ausgabe 01/2024
Erneut ist in Europa und speziell in Deutschland eine Debatte um die Kontrolle von Migration durch den Ausbau befestigter Grenzen entbrannt. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner drängt auf den „physischen Schutz der Außengrenze“ per Zaun. Bundesinnenministerin Nancy Faeser will gar ein „Momentum“ erkannt haben, um mögliche Asylansprüche nur noch an den Außengrenzen einer immer stärker abgeschotteten Europäischen Union zu prüfen. Was dabei in aller Regel übersehen wird: Schleichend und unauffällig beschädigen die neuen Mauern um Europa die demokratische Gesellschaft. Sie schaffen eine Situation, in der die liberale Demokratie ihre eigenen Regeln bricht. Und sie gewöhnen die Bevölkerung an Bilder notleidender, verletzter oder toter Migranten in Wäldern, auf freien Grünflächen, an Stränden oder auf dem offenen Meer entlang Europas Grenzen: Grenzen, die angeblich dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger dieses Kontinents dienen.
Wir dürfen der Wirkung dieser Bilder „nicht nachgeben“, so Heiko Maas. Bezüglich der Abweisung und Gewalt gegen Geflüchteten an der Grenze Belarus zu Polen forderte der Ministerpräsident Michael Kretschmer in Tagesthemen v. 15.11.2021: Wir müssten dies „aushalten“.
In ihrer grundsätzlichen Kritik an „Mauern“ (so der Titel ihres Buchs) identifiziert die amerikanische Philosophin Wendy Brown eher im Vorbeigehen ein Paradox: Je militanter die staatliche Grenze zwischen einer vermeintlich guten, geordneten Innenwelt und einer bösen, chaotischen Außenwelt verteidigt und befestigt wird, desto mehr verschwimmt sie, und das Chaos schleicht sich auch ins Innere der Gesellschaft durch die Wünsche totaler Sicherheit hinein.
Dieser Gedanke hat jedoch noch eine radikalere Implikation: Die physischen, rechtlichen und symbolischen Mauern, die zur Abwehr von Migration hochgezogen werden, sind nicht nur politische Projektionsflächen. Vielmehr haben die Mauern ganz konkrete soziale und normative Auswirkungen, indem sie destruktiv in die Gesellschaft zurückwirken, deren Schutz sie angeblich dienen sollen.
Diese Mauern, die angeblich dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger dieses Kontinents dienen, erzeugen Diskriminierung und Rassismus, da sie – je nachdem die Geflüchteten kommen und welche Hautfarbe sie haben – nicht für alle gleich sind. Die Mauern erziehen die Einheimischen zur Akzeptanz von Gewalt und Ausschluss der „anderen“.
Die eskalierende Abschottungspraxis führt zu schleichenden gesellschaftlichen Verformungen. Es sind vor allem fünf Felder, auf denen sich die korrumpierenden Folgen der gewaltsamen Migrationsabwehr für die offene Gesellschaft beobachten lassen:
=> Erstens sind die enormen symbolischen Anstrengungen zu nennen, die unternommen werden, um in der Bevölkerung das Gefühl einer Bedrohung durch die sog. „irreguläre“ Migranten zu formen, da sie angeblich mit unserer Gesellschaft inkompatibel, unschuldige Opfer von Schleppern oder „Wirtschaftsflüchtlinge“ sind.
=> Zweitens im Aufbau weitgehend unkontrollierter und nur begrenzt berichtspflichtiger polizeilicher oder militärischer Grenzinfrastrukturen sowohl an den geografischen Grenzen als auch im Landesinneren. Frontex versteht ihr Mandat der Aufklärung eher im Sinn eines Geheimdienstes als einer Agentur der öffentlichen Verwaltung.
=> Dies ist drittens eng verbunden mit der Suspendierung von Grund- und Menschenrechten in Grenzregionen und der schleichenden Normalisierung autoritärer Ordnungsstrukturen. So erklärte der Europäische Gerichthof gewalttätige Rückweisungen, also Pushbacks etwa von Frontex, 2020 an Grenzzaun zum spanischen Melilla oder 2022 in Nordmazedonien für legal.
=> Viertens greift die Grenze dadurch nach innen aus, dass sie Maßnahmen zur Einschüchterung auch der Einheimischen nach sich zieht. Dies beginnt bei denen, die wegen „Beihilfe“ zu irregulärer Migration angeklagt werden, und geht immer weiter. Zu diesem Komplex gehören nicht zuletzt die Stigmatisierung und Diskriminierung von Einwohnern, die aufgrund von Aussehen oder Familienbiografie mit jenen identifiziert werden, die an den Grenzen abgewehrt werden sollen.
=> Fünftens schließlich fördern der reale, erhoffte oder halluzinierte Ausbau von unübersteigbaren Mauern ein sozialpsychologisches Syndrom, das wir im Anschluss an eine literarische Vorlage als „Faschismus des Herzens“ bezeichnen, wenn Angst und Hass aber auch eine Homogenisierung der Gesellschaft hinter Mauern durch neue Rechtsradikalen propagiert werden.
Worauf es daher heute ankommt, ist, die Institutionen der Grenze so zu reformieren, dass sie sich den Menschenrechten und dem menschlichen Wanderungsverhalten anpassen, anstatt umgekehrt menschenrechtswidrig das Wanderungsverhalten durch immer restriktivere Regeln zu kontrollieren. Dafür spricht auch, dass die Kontrolle ohnehin nur schlecht funktioniert. Die vielbeschworenen „sicheren Außengrenzen“ sind eine gefährliche politische Fantasie.
Angeblich „sichere“ Grenzen werden mit einem Maß an Zwang und Gewalt erkauft, das letztlich die Freiheit aller gefährdet. Die Gewalt an den Grenzen bedroht nicht nur Migranten, sondern auch die Bürger derjenigen Staaten, die sich hinter Mauern in falscher Sicherheit wiegen und sich vor falschen Gefahren fürchten – und damit letztlich vor allem eines aufs Spiel setzten: die offene Gesellschaft und damit die Prinzipien der liberalen Demokratie.
Das politische Programm geschlossener Gesellschaft, sei es in den USA oder in Ländern Europas, möchte die Idee der Grenzen des Staats eines sorgsam gepflegten Gartens verbreiten, der Migration als Unkraut betrachtet. Die offene Gesellschaft braucht daher den Bruch mit der rassistischen Prämisse einer pflanzenähnlichen Unterscheidbarkeit von Menschen, Staaten oder Kulturen.
Ein berühmter Satz aus einem Gedicht des US-amerikanischen Dichters Robert Frost lautet, dass es „gute Zäune“ sind, die „gute Nachbarn“ machen. Leider wird der Satz oft missverstanden als ein Plädoyer für Zäune, Mauern und geschlossene Grenzen – oder aber als eine pauschale Ablehnung der Grenzen. Man kann ihn jedoch auch so deuten, dass Frost ein Beurteilungskriterium entwickelt, das es uns erlaubt zu entscheiden, ob ein Grenzzaun gut ist oder nicht. Gute Zäune wären demnach solche, die für gute nachbarschaftliche Beziehungen sorgen. Und nur durchlässige Zäune mit Türen und Toren, die niemanden verletzen, die nicht nur von einer Seite aus kontrolliert werden und außerdem einem erkennbaren und sinnvollen Ziel dienen, schaffen gute Beziehungen. „Ich würd mich fragen, eh ich Mauern zög: / Was zäun ich damit ein, was zäun ich aus, / Und wen mein Zäunen leicht verletzen möcht.“
Der Beitrag basiert auf „Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft“, dem jüngsten Buch von Volker Heins und Frank Wolff, das im vergangenen Jahr im Suhrkamp Verlag erschienen ist.