30.09.2020: Zukunftsgestaltung nach Corona

FUgE Hamm und LIGA Lünen, 30. September 2020
Siehe die u.g. Erklärung als PDF HIER  und die ausführliche Fassung der Erklärung mit Handlungsschritten als PDF HIER

Für eine Erneuerung unsere Gesellschaft – Zukunftsgestaltung nach Corona
Gemeinsame Erklärung von LIGA und FUgE

Die Corona-Krise trifft Deutschland, Europa und die Welt zu einem Zeitpunkt, zu dem ohnehin eine Vielzahl an großen Herausforderungen zu lösen sind: die dramatische Klimakrise, die Knappheit an fruchtbaren Böden, das Artensterben, die Naturzerstörung sowie der ungebremste Raubbau an unseren Ressourcen. Hinzu kommen die Probleme aus der Corona-Krise: die notwendige Stärkung der Gesundheitsvorsorge, die Bewältigung der ökonomischen Folgen der Krise und die Beseitigung der sich gegenwärtig nochmals verschärfenden sozialen Ungleichheit bei uns und weltweit.
Jetzt gilt es, die langfristige Zukunftsgestaltung mit den Maßnahmen zur wirtschaftlichen Ankurbelung zu verbinden und dabei die Chancen für einen nachhaltigen Neustart zu nutzen.

Die Corona-Pandemie – Erinnerung an die Verletzbarkeit der Menschheit
Die Corona-Pandemie ist auch das Ergebnis der zunehmenden Vernichtung unserer Ökosysteme. Fachleute (Umweltforscher, Virologen, Club of Rome, WHO) warnen davor, dass es weitere Erreger mit zum Teil noch gravierenderen Auswirkungen oder Pandemien geben könnte, die nicht nur zum Verlust von Leben führen, sondern Volkswirtschaften abwürgen und soziales Chaos verursachen könnten. Die Wahrscheinlichkeit von Pandemien steige mit der weiteren Zerstörung unsere Ökosysteme. Eine Beendigung der Naturzerstörung ist daher unverzichtbarer Bestandteil einer zukünftigen Vorbeugung gegen Pandemien.

Klimaneutral leben – die epochale Aufgabe
Die Klimaerhitzung stellt eine noch dagewesene Bedrohung für die Menschheit dar. Zahlreiche Parlamente auf kommunaler, nationaler und europäischer Ebene haben den Klimanotstand ausgerufen. Regierungen und Verwaltungen werden darin aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, die die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius begrenzen. Die Klimakrise wird aber bisher nicht als Notstand behandelt, obwohl sie sich weiterhin dramatisch verschärft. Die Erderwärmung setzt sich weiterhin ungebremst fort und droht unseren Planeten unwirtlich und unbewohnbar zu machen. Die Klimaerhitzung stellt eine noch nie dagewesene Bedrohung dar.
Nur mit einer radikalen Senkung des CO2-Ausstosses ist das Klimaziel aus dem Pariser Abkommen noch zu erreichen. Dazu müssen wir klimaneutral leben und arbeiten. Klimaneutralität bedeutet, dass die Treibhausgase auf null reduziert werden müssen. Die erforderlichen Umstellungen von Wirtschaft und Gesellschaft sind in den nächsten 15 Jahre zu erreichen und nicht erst 2050 wie es die Europäische Union anstrebt. Die bisher geplanten Maßnahmen reichen bei weitem nicht aus.

Schritte auf dem Weg zur Klimaneutralität sind:

  • Klimaschädliche Subventionen von fossilen Energieträgern in Deutschland (Diesel, Kerosin, Dienstwagen) sind bis spätestens 2025 abzubauen.
  • Der Umwelt- und Ressourcenverbrauch muss auf Basis der tatsächlich angefallenen sozialen und ökologischen Kosten (z.B. bei CO2-Emissionen) besteuert werden.
  • Die Kohleverstromung ist bis spätestens 2030 zu beenden.
  • Neuwagen müssen ab 2030 CO2-frei sein.
  • Die klimaschädliche industrielle Massentierhaltung wird innerhalb der nächsten 20 Jahre beendet.
  • Erneuerbare Energien sind schnell und massiv auszubauen.

Ein Leben in Würde für alle Menschen – Beendigung unseres Lebens auf Pump
Wir leben auf Kosten armer Länder und zukünftiger Generationen. Die Nutzung von Rohstoffen und Müllkapazitäten ist weltweit extrem ungerecht verteilt. Wir alle wissen mittlerweile: Wenn alle Welt so leben würde wie wir in Deutschland, bräuchte die Menschheit drei Planeten. Sollen alle Menschen auf diesem Planeten, heutige und zukünftige Generationen ein Leben in Würde führen und dabei unsere Lebensgrundlagen erhalten bleiben, benötigen wir eine Ressourcenwende. Ihr Ziel muss es sein, unseren absoluten Ressourcenverbrauch zu senken und die noch vorhandenen Rohstoffe gerecht zu verteilen. Dazu benötigen wir ein radikales Umdenken in unsere Art, die Ressourcen zu nutzen.

Schritte auf dem Weg in eine ressourcenschonende Gesellschaft sind:

  • Die Realität sehen: Wachstum bedeutet in einer begrenzten Welt mit endlichen Ressourcen Zerstörung. Wir werden unsere Lebensstile und Konsumgewohnheiten ändern müssen.
  • Ein sparsamer Umgang mit Ressourcen kann durch eine Verbesserung politischer Rahmenbedingungen (nachhaltige Stadtentwicklung, weniger Flächenverbrach, dezentrale Energieversorgung etc.) forciert werden. Diese Maßnahmen erhöhen die Lebensqualität.
  • Mit der Einführung eines Lieferkettengesetzes können Unternehmen beim Abbau von Ressourcen auf die Beachtung ökologischer und sozialer Standards verpflichtet werden.
  • Die Verbreitung der Gemeinwohlökonomie fördert ressourcensparende Produktionsweisen.

Investitionen in eine nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft – von der Krisenbewältigung zur Zukunftsgestaltung
Die Umstellung zu einer treibhausneutralen Wirtschaft ist ein Großprojekt mit erheblichem Investitionsbedarf. Investiert werden muss in klimaschonende Produktionsprozesse, nachhaltige Ernährungssysteme, den Ausbau von erneuerbaren Energien, den Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft etc.

Schritte auf diesem Wege sind:

  • Das bisher im Konjunktur- und Zukunftspaket der Bundesregierung vorgesehene Volumen für eine ökologische Nachhaltigkeit der Wirtschaft in Höhe von 50 Milliarden Euro ist deutlich zu gering.
  • Erhalten Unternehmen mit größeren Emissionen Steuergelder, so müssen sie vom Staat verpflichtet werden, einen Klimaplan vorzulegen, der sich alle fünf Jahre überprüfen lässt.

Globale Solidarität – gerechte Wege aus der Krise
Die Corona-Krise trifft die Länder des Globalen Südens am stärksten. Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie drohen den Kampf gegen die Armut um ein Jahrzehnt zurückzuwerfen. Zudem verschärft die Pandemie die soziale Ungleichheit dramatisch. Es gilt den Corona-Virus in den Entwicklungs- und Schwellenländern einzudämmen, das Recht auf Gesundheit für alle durchzusetzen und das Gesundheitssystem weltweit zu stärken.

Schritte auf dem Weg zur globalen Solidarität sind:

  • Mit einem umfassenden Schuldenerlass sowie zusätzlichen Finanzmittel müssen die öffentlichen Bildungs-, Gesundheits- und sozialen Sicherungssysteme in armen Ländern gestärkt werden.
  • Wohlstand in ärmere Länder bringen vor allem faire und gerechte Handelsbedingungen.
  • Die Steuerpolitik muss der extremen Ungleichheit bei der Vermögensverteilung entgegenwirken (Mindeststeuersätze von Konzernen, Austrocknung von Steueroasen, Finanztransaktionsteuer).

Die entscheidende Frage: Wie kann eine Welt aussehen, die für 100% der Menschheit funktioniert? (Richard Fuller)
Lasst uns nach Antworten suchen und gemeinsam die Aufgaben anpacken und zeigen:

  • wie sich für alle Menschen die Grundbedürfnisse befriedigen lassen,
  • wie ausreichende Gleichheit erreicht werden kann, die soziale Stabilität und Sicherheit schafft,
  • wie sich das alles innerhalb der ökologischen Grenzen verwirklichen lässt.
    Siehe die o.g. Erklärung als PDF HIER

Eine ausführliche Fassung der Erklärung mit einer detaillierten Begründung der vorgeschlagenen Handlungsschritte ist kostenfrei bei LIGA (www.liga-luenen.de ) und FUgE (www.fuge-hamm.org) erhältlich oder kann als PDF HIER heruntergeladen werden.
V.i.S.d.P.: Dr. Ulrich Weber, Parkstraße 5, 44532 Lünen

Ausführliche Fassung der Erklärung

Für eine Erneuerung der Gesellschaft – Zukunftsgestaltung nach Corona
Vorschläge, Fakten, Hintergründe
von Dr. Ulrich Weber

Kehrtwende oder Klimakatastrophe

„Die Klimakrise ist die Überlebensfrage der Menschheit.“
Angela Merkel, Bundeskanzlerin seit 2005
„Es gibt uns (die Menschen) schon seit vielen Hunderttausend Jahren, aber ich glaube, in den nächsten hundert Jahren wird die Entscheidung fallen, ob die Menschheit mit den Möglichkeiten dieses Globus zurechtkommt – oder nicht. Eigentlich reden wir in der Ökologie darüber, ob das Experiment Menschheit gelingt oder ob es misslingt“.
(Erhard Eppler, 2016, langjähriger sozialdemokratischer Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und mehrfacher Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags)
„Es besteht ein großes Risiko, dass wir unsere Zivilisation beenden werden. Der Mensch wird irgendwie überleben, aber wir werden alles zerstören, was wir in den vergangenen 2.000 Jahren aufgebaut haben.“
(Hans Joachim Schellnhuber, 2019, Klimaforscher und Gründer des Potsdam-Instituts für Klimaforschung)
„Unserer Ansicht nach deuten allein die Hinweise aus den Kipppunkten darauf hin, dass wir uns in einem planetarischen Ausnahmezustand befinden“.
„Die Stabilität und Widerstandsfähigkeit unseres Planeten ist in Gefahr. Das internationale Handeln – nicht nur in Worten – muss dies widerspiegeln.“
(Klimaforscher und Mitglieder des Weltklimarats, 2019)
„Entweder wir stehen zusammen oder wir sind dem Untergang geweiht“.
(Antonio Guterres, UN-Generalsekretär, September 2020 zur Klimakrise)

Für eine Erneuerung der Gesellschaft – Zukunftsgestaltung nach Corona
Vorschläge, Fakten, Hintergründe
Dr. ULRICH WEBER
Für unsere Enkeltochter Greta

Inhalt
Vorwort
Für eine Erneuerung unserer Gesellschaft – Zukunftsgestaltung nach Corona

  1. Die Corona-Pandemie – ein erneuter Weckruf
  2. Respektvoller Umgang mit der Natur
  3. Klimaneutral leben – die epochale Aufgabe
  4. Ein Leben in Würde für alle Menschen
  5. Gesundheit als Recht und nicht als Ware
  6. Würde statt Elend – solidarische Wege aus der Corona-Krise
  7. Partnerschaft statt Ausbeutung – Gerechtigkeit im Welthandel
  8. Ungleichheit als Bedrohung für die Gesundheit
  9. Denken und Handeln – Kooperation und Solidarität statt Konkurrenz und Egoismus
    Anmerkungen & Quellen
Vorwort

Deutschland und die Europäische Union stehen vor einer Vielzahl an großen Herausforderungen: die Klimaerhitzung erreicht in vielen Regionen der Welt lebensbedrohliche Ausmaße und stellt eine noch nie dagewesene Bedrohung dar, das Artensterben beschleunigt sich, immer mehr planetarische Grenzen werden überschritten und die Spaltung zwischen Arm und Reich nimmt noch obszönere Formen an. Hinzu kommt die Bewältigung der Folgen der Corona-Krise.
Das Forum für Umwelt und gerechte Entwicklung in Hamm (FUgE) und die Lüner Initiative gegen globale Armut in Lünen (LIGA) haben gemeinsam eine Erklärung „Für eine Erneuerung unserer Gesellschaft – Zukunftsgestaltung nach Corona“ abgegeben (vgl. Anhang). Mit dieser Erklärung wollen wir deutlich machen, dass wir weit hinter dem zurückbleiben, was getan werden muss. Wir setzen uns oftmals über das hinweg, was die Wissenschaft als notwendig erachtet, um die katastrophalen Auswirkungen der Krisen zu verhindern. Nun gilt es das Notwendige zu tun. Die vorliegende Broschüre ergänzt unsere Vorstellungen um Fakten und Hintergründe.
FUgE und LIGA sind Netzwerke für engagierte Gruppen sowie Einzelpersonen aus dem Eine – Welt- und Umweltbereich. Gemeinsames Anliegen der Akteure ist die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in den Ländern des globalen Südens. Ziel der Arbeit ist Bewusstseinsbildung und Gesellschaftsveränderung im Sinne einer gerechten, demokratischen und ökologischen Entwicklung.
„Wie kann eine Welt aussehen, die für 100 % der Menschheit funktioniert?“ fragte der amerikanische Architekt Richard Fuller. Lassen Sie uns nach Antworten suchen und dann gemeinsam die Aufgaben anpacken und zeigen,

  • wie sich für alle Menschen die Grundbedürfnisse befriedigen lassen,
  • wie ausreichende Gleichheit erreicht werden kann, die soziale Stabilität und Sicherheit schafft,
  • wie sich das alles innerhalb der ökologischen Grenzen verwirklichen lässt.

=> Dr. Katrin Stückrath für das Koordinationsteam (Lüner Initiative gegen globale Armut)
=> Dr. Karl A. Faulenbach (Forum für Umwelt und gerechte Entwicklung)
Die Erklärung sowie die vorliegende ausführliche Fassung können auch in größerer Stückzahl bei FUgE und LIGA bezogen oder als PDF (HIER) heruntergeladen werden.

Für eine Erneuerung unserer Gesellschaft
Zukunftsgestaltung nach Corona

1. Die Corona-Pandemie – ein erneuter Weckruf

Die Corona-Pandemie trifft Deutschland, Europa und die Welt zu einem Zeitpunkt, zu dem ohnehin eine Vielzahl an großen Herausforderungen zu lösen sind: der dramatische Klimawandel, die Knappheit an fruchtbaren Böden, das Artensterben, die Naturzerstörung sowie der ungebremste Raubbau an unseren Ressourcen. Ferner leben vier Milliarden Menschen in unterschiedlichen Notlagen wie Dürren, Fluten, Hunger und nackter Armut oder unter Kriegsbedingungen.
Hinzu kommen die Probleme aus der Corona-Krise: die notwendige Stärkung der Gesundheitsvorsorge, die Bewältigung der ökonomischen Folgen der Krise und die Beseitigung der sich gegenwärtig nochmals verschärfenden sozialen Ungleichheit bei uns und weltweit. Die Corona-Krise verdeutlicht wie durch ein Brennglas Schwachstellen und Versäumnisse wie die unzureichende öffentliche Daseinsvorsorge oder die sich nochmals verschärfende Kluft zwischen Arm und Reich. Nach globaler Erderwärmung und fortschreitendem Artensterben ist die Pandemie ein erneuter Weckruf, mit dem die Menschheit auf die Verletzlichkeit unseres Planeten hingewiesen wird.
Wir erleben eine elementare Krise unserer Gesellschaft. Es geht darum zu verhindern, dass die Erde für unsere Nachkommen unwirtlich und unbewohnbar wird; es geht darum, die Grundlagen für eine lebenswerte Zukunft zu erhalten.
Wachstum zerstört unseren Planeten. Sollen die zerstörerischen Wirkungen des Wachstums gebändigt werden, so müssen sich Konsumgewohnheiten und Lebensstil ändern. Eine Wirtschaftsweise, die in einer begrenzten Welt mit endlichen Ressourcen auf stetes Wachstum setzt, ist nicht nachhaltig. An die Stelle des „Immer Mehr“ im Konsumverhalten muss die Frage nach dem „richtigen Maß“ treten. Hinzukommen muss eine Abkehr vom Prinzip des Eigennutzes, des kurzfristigen egoistischen Denkens und der Konkurrenz hin zu einer solidarischen Lebensweise.
Kurzum:
Wir benötigen eine neue Vorstellung von Wohlstand – eine Vorstellung, die ausdrückt, was wir zukünftig wichtig finden wollen. Jetzt gilt es die langfristige Zukunftsgestaltung mit den Maßnahmen zur wirtschaftlichen Ankurbelung zu verbinden und dabei die Chancen für einen nachhaltigen Neustart zu nutzen.
Für eine soziale und ökologische Gestaltung ergeben sich folgende Fragestellungen:

  • Wie kann das Risiko von zukünftigen Pandemien verringert werden?
  • Was muss getan werden, um innerhalb der planetarischen
  • Belastungsgrenzen zu bleiben und unsere Lebensgrundlagen zu erhalten?
  • Welche Möglichkeiten bestehen, allen Menschen auf diesem Planeten, den heutigen und zukünftigen Generationen ein Leben in Würde zu ermöglichen?
  • Welchen Beitrag können die angekündigten Konjunkturpakete und Finanzhilfen beim Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaft leisten?
  • Was soll zukünftig unseren Wohlstand ausmachen und wie wollen wir ihn messen?
  • Wie kann sichergestellt werden, dass unser Wirtschaftssystem stärker dem Gemeinwohl dient?
  • Wie muss Solidarität mit den besonders von der Pandemie betroffenen Menschen im globalen Süden aussehen?
  • Wie kann der Welthandel zukünftig so gestaltet werden, dass die Länder des globalen Südens ihr Gesundheitswesen eigenständig finanzieren können?
  • Wie wirkt sich Corona auf die Verteilung von Vermögen aus und wie kann die Verteilung gerechter gestaltet werden?
  • Worauf kommt es beim Denken und Handeln an, wenn wir eine enkelfreundliche Welt wollen?
  • Welche politischen Rahmenbedingungen und Strukturen müssen für eine nachhaltige Entwicklung auf- und ausgebaut werden?
  • Was kann jeder Einzelne tun gegen Armut, Hunger und Umweltzerstörung und für eine Welt, in der heute, aber auch unsere Enkelinnen und Enkel gerne leben wollen?
    Die Überlegungen zu den aufgeworfenen Fragen führen zu einem Vorschlag für eine Erneuerung unserer Gesellschaft.
2. Respektvoller Umgang mit der Natur

Wie ist die Situation?
Die Menschheit hat geradezu die Bedingungen dafür geschaffen, dass sich Krankheiten wie Corona ausbreiten können. Schrumpfende Lebensräume und damit einhergehende Verhaltensänderungen von Tieren haben zum Risiko der Übertragung von Krankheiten von Tieren auf Menschen beigetragen. „Die Wahrscheinlichkeit von Pandemien steigt mit der zunehmenden Vernichtung von Ökosystemen und Biodiversität“, erklären uns Virologen und Umweltforscher.1) Die große Mehrheit an Krankheitserregern warte dabei noch auf Entdeckung. Der Club of Rome warnt in einem offenen Brief: „Viele Krankheiten sind noch unentdeckt, so dass die uns bekannten Krankheiten nur die Spitze des Eisberges darstellen.“ Wir müssten damit rechnen, so folgern die Experten, dass es weitere Erreger mit zum Teil noch gravierenderen Auswirkungen geben werde.2)
Ähnlich äußerte sich die frühere WHO-Generaldirektorin Gro Harlem Brundtland bereits im September letzten Jahres nahezu prophetisch:
„Für die Welt besteht das akute Risiko verheerender Epidemien oder Pandemien, die nicht nur zum Verlust von Leben führen, sondern Volkswirtschaften abwürgen und soziales Chaos verursachen.“ 3)
Die fortgesetzte Naturzerstörung, die Ausdehnung landwirtschaftlicher Nutzflächen, die Rodung von Wäldern und die damit einhergehende Vernichtung von Ökosystemen und Biodiversität haben Corona mitverursacht.

Was ist zu tun?
Menschliches Wirtschaften hat so einen erheblichen Anteil an den durch Corona verursachten Schäden. Ein konsequenter Schutz der natürlichen Vielfalt und eine Beendigung der Naturzerstörung gehören zu den unverzichtbaren Komponenten einer zukünftigen Vorbeugung gegen Pandemien.

Fazit:
In der kapitalistischen Wirtschaftsweise wird die Natur dem Bedarf der Menschen untergeordnet. Wenn wir als Menschheit nicht lernen nachhaltig zu wirtschaften und respektvoll mit der Natur umzugehen, dann werden unsere menschlichen Systeme immer wieder zusammenbrechen – wie wir das aktuell beim Shutdown erleben.

3. Klimaneutral leben – die epochale Aufgabe

Wie ist die Situation?
Vier von neun der planetarischen Grenzen (= Belastungsgrenze der Erde, deren Überschreiten zu irreversiblen Schäden führt) sind durch den Einfluss von Menschen bereits überschritten: Klimawandel, Biodiversität, Landnutzung, und biogeochemische Kreisläufe. Zwei von diesen Grenzen, nämlich der Klimawandel und das Artensterben, sind von entscheidender Bedeutung. Werden sie überschritten, dann sind die Stabilität des gesamten Ökosystems und die Lebensgrundlagen der Menschheit gefährdet. 4)
Die Klimakrise verschärft sich weiterhin dramatisch. Die Weltorganisation der Vereinten Nationen für Meteorologie (WMO) hat in ihrem aktuellen Bericht gerade festgestellt: Seit Beginn der Aufzeichnungen wurden die höchsten CO2-Konzentrationen in der Erdatmosphäre gemessen, die Durchschnittstemperaturen waren noch nie höher, die letzten fünf Jahre waren die wärmsten seit Beginn der Messaufzeichnungen und auch die Ozeane waren noch nie wärmer als in den vergangenen Jahren.5)
Falls die Erwärmung so weitergehe „könnten wir Temperaturanstiege von drei bis fünf Grad bis Ende des Jahrhunderts beobachten“, so beschrieb der WMO-Generaldirektor Petterei Taalas den aktuellen Trend. Um den Anstieg der Durchschnittstemperatur bis 2100 auf zwei Grad zu halten, müssten die Anstrengungen zur Reduzierung der Treibhausgase verdreifacht werden und um die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, wie im Pariser Abkommen vorgesehen, sei sogar eine Verfünffachung erforderlich.5)
In einer aktuellen Studie weisen renommierte Klimaforscher auf die wachsende Bedrohung durch abrupte und unumkehrbare Klimaänderungen hin; sie warnen davor, dass sogenannte Kipppunkte im Erdsystem noch schneller erreicht werden und die globale Erwärmung dadurch noch dramatischer ausfallen könne. (Unter Kippunkten werden Prozesse verstanden, die sich beim Überschreiten bestimmter Schwellenwerte unumkehrbar immer weiter fortsetzen und die Erwärmung weiter beschleunigen – unabhängig von allen danach noch getroffenen Maßnahmen.) Die Autoren beschreiben eindrücklich die bisher unterschätzen Kettenreaktionen und Rückkopplungen zwischen Ökosystemen. Einige der Grenzwerte seien wahrscheinlich schon überschritten. Die Gruppe der Wissenschaftler sieht die Menschheit in einer Klimanotlage und fordert dringend weitere Klimaschutzmaßnahmen.6)
Die Klimaerhitzung stellt eine noch nie dagewesene Bedrohung dar. Von einem „planetaren Notstand“, in dem sich die Menschheit befindet, sprechen auch Vertreter des Club of Rome. 2) Das Europaparlament hat Ende des letzten Jahres den Klima- und Umweltnotstand ausgerufen und die Kommission aufgefordert, dafür zu sorgen, dass alle relevanten Gesetze und Haushaltsvorschläge vollständig mit dem Ziel übereinstimmen, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. In Deutschland haben Kommunen den Klimanotstand ausgerufen und deutlich gemacht, dass die bisher beschlossenen Maßnahmen zur Minderung der Treibhausgasemissionen nicht ausreichen.
Es gilt also sich aus diesem planetaren Notstand zu befreien. Das Ziel ist klar durch das Pariser Klimaabkommen von 2015 festgelegt: Die Erderwärmung muss gegenüber dem vorindustriellen Niveau auf 1,5 Grad und deutlich unter zwei Grad begrenzt werden.

Was ist zu tun?
Klimaforscher haben berechnet, wieviel weiteres CO2 die Menschheit noch ausstoßen kann, wenn die globale Erwärmung auf die international angestrebten 1,5 Grad Celsius begrenzt werden soll (CO2-Budget). Es gibt zwar bisher noch keine allgemein anerkannte Methodik für die Berechnung dieses Budgets, aber die Grundaussagen in klimapolitischer Hinsicht sind gleich. Wenn die Menschheit weiter auf dem heutigen Niveau emittiert, so ist das Budget in spätestens 10 Jahren aufgebraucht.6+7)
Höchste Priorität muss eine drastische Reduktion der Treibhausgase haben.
Im Kern geht es darum, die Treibhausgasemissionen der Welt auf null zu bringen. Klimaneutralität heißt dieses Ziel. Es dürfen nicht mehr CO2 und andere Treibhausgase in die Atmosphäre geblasen werden als durch andere kompensierende Maßnahmen gebunden werden können. Entscheidend dabei ist, dass die Emissionen netto bei null liegen.
Experten haben nun Berechnungen angestellt, bis zu welchem Zeitpunkt Deutschland und die Europäische Union das Ziel Netto-Null-Emissionen erreicht haben müsste, um dem Anspruch auf eine faire weltweite Verteilung nach Bevölkerungszahlen und unterschiedlicher historischer Verantwortung gerecht zu werden.
Nach ihrer Auffassung ist ein Zeitraum von 15 Jahren der längste Zeitraum, der noch mit planetaren Grenzen kompatibel ist.8)
Die Aufgabe von Politik und Gesellschaft in den nächsten Jahren ist epochal:
Der Umbau hin zur Klimaneutralität bedeutet den nahezu vollständigen Verzicht auf die Verwendung der fossilen Energieträger Kohle, Gas und Öl.
Als Maßnahmen auf dem Weg zu Klimaneutralität sind erforderlich:

Umsetzung des Klimapakets der Bundesregierung
Das 2019 von der Bundesregierung verabschiedete Klimapaket sieht vor:

  • Regelmäßige Überprüfung der Klimaziele für die einzelnen Sektoren, u. U. empfindliche Sanktionen bei ihrer Verfehlung,
  • Beendigung der Kohleverstromung bis 2038,
  • Einführung einer CO2-Bepreisung ab 2021 von 25 € pro Tonne und danach eine schrittweise Erhöhung,
  • Abbau der Blockaden bei den erneuerbaren Energien (Verbesserung des regulatorischen Rahmens für den Ausbau von Wind- und Solarkraft.

Experten sind der Auffassung, dass die geplanten Maßnahmen des Klimapakets nicht ausreichen werden, um zu den notwendigen Reduktionen bei den CO2-Emissionen zu kommen. Daher haben sie eine weitere Anhebung der CO2-Bepreisung vorgeschlagen. Außerdem soll der Zeitpunkt für den endgültigen Ausstieg aus der Kohleverstromung auf das Jahr 2030 vorverlegt werden und der Umstieg auf die erneuerbaren Energien bis 2030 abgeschlossen sein. Zudem sollten die erheblichen Subventionen von fossilen Energieträgern auslaufen.

CO2-freie Mobilität bis 2030
Die Dekarbonisierung des Verkehrs in Deutschland erfordert eine umfassende Verkehrswende. Zentrale Elemente sind eine Umstellung des Personen- und Güterverkehrs. Um das zu erreichen und Mobilitätsbedürfnisse auch zukünftig erfüllen zu können, sind folgende Maßnahmen notwendig:

  • nur noch CO2-freie Neuwagen ab 2030,
  • massive Stärkung des Schienennetzes und des Ausbaus der ÖPNVStrukturen,
  • Förderung des Fuß- und Radverkehrs durch Ausbau von Rad- und Gehwegen, benötigt vor allem die heimische energieintensive Industrie (z. B. Stahlwerke, Zementindustrie) hohe Investitionsmittel. 9)

Weitere Beispiele für erforderliche Investitionen sind der Ausbau erneuerbarer Energien, nachhaltige Ernährungssysteme, Natur und Wiederaufforstung und eine regenerative Landwirtschaft.
Genutzt werden kann dafür das geplante Konjunkturpaket der Bundesregierung zum Wiederaufbau der Wirtschaft in Höhe von 130 Milliarden. Das vorgeschlagene Paket sollte unter zwei Aspekten nachgebessert werden:

  • Das Volumen für Investitionen für eine ökologische Neuausrichtung der Wirtschaft in Höhe von 50 Milliarden Euro ist deutlich zu gering.

Nachbesserungen sind vor allem erforderlich in den Bereichen Energie, Verkehr, Landwirtschaft und bei Gebäudesanierungen.

  • Erhalten Unternehmen mit größeren Emissionen Steuergelder, so müssen sie vom Staat verpflichtet werden, einen Klimaplan vorzulegen, der sich alle fünf Jahre überprüfen lässt. Von dieser Möglichkeit macht die Bundesregierung bisher keinen Gebrauch.

„Green Deal“ der Europäischen Kommission
Die EU-Kommission schlägt zur Förderung des Klimaschutzes ein Maßnahmenpaket – einen sogenannten „Green Deal“ vor. Danach soll Europa bis Mitte des Jahrhunderts der erste klimaneutrale Kontinent werden. Für die Finanzierung des Umbaus von Industrie, Energieerzeugung, Verkehr und Landwirtschaft sollen bis 2030 die Klimagase um 40 Prozent unter den Wert von 1990 gesenkt werden. Klimaforscher halten dieses Ziel für viel zu niedrig, um das Klimaziel zu erreichen.
Ziele und Rahmen des Green Deals müssen verschärft werden.

  • Erreichen der Klimaneutralität innerhalb von 15 Jahren und Vereinbarung neuer Zwischenziele mit regelmäßiger Überprüfung,
  • Festlegung eines verbindlichen rechtlichen Rahmens (Klimaschutzgesetz),
  • Sicherung der Finanzierung des Green Deals (Schätzung der Kommission auf eine Billion Euro).

Der Green Deal ist eine Chance für Europa und Deutschland, die CO2-Emissionen schnell und stark abzusenken.

  • Abbau klimaschädlicher Subventionen für den PKW- und Luftverkehr wie z. B. das Dienstwagenprivileg,
  • Anreize für nachhaltige Mobilität z. B. durch eine entfernungsabhängige Maut.

Mit dem bisher von der Bundesregierung vorgelegten Sammelsurium an einzelnen Verkehrsmaßnahmen lässt sich die notwendige Senkung der Emissionen im Verkehrsbereich nicht erreichen.

Umwelt- und klimaschonende Landwirtschaft
Eine Agrarwende ist ein zentraler Baustein für die Lösung der Klimakrise.
Wichtige Schritte auf diesem Weg sind:

  • Ausstieg aus der industriellen Massentierhaltung innerhalb von 20 Jahren,
  • Förderung des Ökolandbaus,
  • Reform der EU-Agrarpolitik,
  • ein Pestizidreduktionsprogramm mit klaren Zielvorgaben,
  • ein Ende der exportorientierten Agrarpolitik in Europa,
  • Schutz von Moorböden, Erhalt von Grünland, Senkung von Stickstoffüberschüssen.

Von hoher Bedeutung für eine klimafreundliche Landwirtschaft ist eine Reform der Agrarpolitik auf EU-Ebene. Mit dem Beginn des nächsten Förderprogramms von 2021 bis 2027 sollten nur noch Betriebe gefördert werden, die klimafreundlich wirtschaften. Hält die Landwirtschaft an der Orientierung auf den Weltmarkt fest, dann sind die Klimaziele nicht zu erreichen. Zu der Neuausrichtung der Agrarpolitik gehört zwingend auch eine Ernährungswende (Reduktion Fleischkonsum, regionale Produkte.
Eine wirksame Umsteuerung der Land- und Forstwirtschaft auf eine klimagerechte, ökologische und tiergerechte Land- und Forstwirtschaft steht bisher aus.

Investitionen in eine nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft
Die Umstellung zu einer treibhausneutralen Wirtschaft ist ein Großprojekt mit erheblichem Investitionsbedarf. Investiert werden muss in klimaschonende Produktionsprozesse, Forschung und Entwicklung und kohlenstoffarme Produkte. Für die Umstellung auf null Nettoemissionen

Fazit:
Die Welt befindet sich in einem planetaren Notstand. Es geht um den Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Die Herstellung von Klimaneutralität ist die epochale Aufgabe. Die erforderlichen Umstellungen von Wirtschaft und Gesellschaft sind in den nächsten 15 Jahren zu organisieren.
Die bisher geplanten Maßnahmen werden dazu nicht ausreichen. Der von Parlamenten auf kommunaler, nationaler und europäischer Ebene ausgerufene Klimanotstand wird bisher nicht als Notstand behandelt.
Bisher erweisen sich die ökonomischen und politischen Systeme als nur sehr begrenzt fähig die Krise zu lösen. Hoffen lässt, dass die Politik in der Corona-Krise gezeigt hat, dass sie schnelle, radikale und weitreichende Maßnahmen treffen kann.

4. Ein Leben in Würde für alle Menschen

Wie ist die Situation?
Nachhaltige Entwicklung beruht im Kern auf der Vorstellung, allen Menschen auf diesem Planeten, heutigen und zukünftigen Generationen ein Leben in Würde zu ermöglichen und dabei innerhalb der planetarischen Grenzen zu bleiben. Zu einem Leben in Würde gehören Gesundheit und Bildung sowie die Befriedigung zumindest grundlegender Bedürfnisse (das Recht auf Zugang zu sauberem Wasser, angemessener Wohnraum, Ernährung).
Wie können wir also ein würdevolles Leben mit ausreichenden Entwicklungschancen für zehn Milliarden Menschen bis Mitte des Jahrhunderts sicherstellen, ohne dabei die knappen Ressourcen und Umweltgüter so zu beanspruchen, dass dabei die gegebenen ökologischen Leitplanken überschritten werden.
Dazu benötigen wir eine Ressourcenwende. Ihr Ziel muss es sein, den absoluten Ressourcenverbrauch zu senken und die vorhandenen Rohstoffe weltweit gerecht zu verteilen.
Deutschland ist einer der größten Rohstoffkonsumenten der Welt. Der Rohstoffverbrauch in Deutschland liegt aktuell bei rund 16 Tonnen pro Kopf und Jahr (USA: 27 Tonnen pro Kopf); doppelt so viel wie im globalen Durchschnitt.10) Soll ein Leben in Würde für alle ermöglicht werden, müssten wir laut BUND bis 2050 unseren Pro-Kopf-Verbrauch auf drei Tonnen Rohstoffe im Jahr verringern. Wenn alle Menschen weltweit so leben und wirtschaften würden wie in Deutschland, benötigten wir mehr als drei Planeten. Wir leben also auf Kosten ärmerer Regionen und zukünftiger Generationen.
Über eine Steigerung der Rohstoffeffizienz oder mit technischen Lösungen (z. B. Recycling, Kreislaufwirtschaft) wird es nicht gelingen, den absoluten Ressourcenverbrauch zu senken. Auf diesen Weg setzen die Bundesregierung und fast alle Parteien.
Der Rebound-Effekt hat bis heute nämlich stets dafür gesorgt, dass Effizienzgewinne durch einen erhöhten Verbrauch wieder aufgefressen werden. Bisher ist es nirgends auf der Welt gelungen, die Steigerung des Wirtschaftswachstums vom absoluten Verbrauch zu entkoppeln. Solange immer mehr produziert wird, wird der Ressourcenverbrauch weiter zunehmen.
Daraus folgt: Wirtschaftswachstum zerstört den Planeten. Wir dürfen Wachstum also nicht mehr zum Maß unseres wirtschaftlichen Handels machen. Wir benötigen ein (neues) Verständnis, wie wir bei vermindertem Ressourcenanspruch und -verbrauch zu einem zufriedenstellenden Leben kommen können.
Helfen kann dabei eine suffiziente Vorgehensweise. Suffizienz verfolgt das Ziel, den Ressourcenverbrauch zu reduzieren und absolut zu begrenzen.
Der Begriff steht für das Bemühen um einen möglichst geringen Rohstoff-, Energie- und Flächenverbrauch. Es geht um die Begrenzung des wirtschaftlichen Wachsens und die Auffassung, dass auch mit vermindertem Ressourcenanspruch oder – verbrauch ein zufriedenstellendes Leben möglich ist. An die Stelle des „Immer Mehr“ im Konsumverhalten kann ein „Mehr“ an Lebensqualität und Zufriedenheit in Bereichen wie Gesundheit, Freundschaft, Kreativität, Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, Muße etc. treten. Suffizienz strebt somit eine Änderung vorherrschender Konsummuster und ein Rückdrängen der Kommerzialisierung an. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf die Fragen Was brauchen wir wirklich?
Und: Wieviel ist genug? Es geht darum das „richtige Maß“ zu finden und nicht auf Kosten kommender Generationen und der Menschen im globalen Süden zu leben.
Sicherlich sind individuelle Beiträge zur Ressourcenminderung wichtig; in erster Linie muss es jedoch darum gehen, die politischen Rahmenbedingungen und Strukturen zu ändern und möglichst Vielen einen nachhaltigen Lebensstil zu ermöglichen. Suffiziente Lebensstile dürfen keine exklusiven Lebensstile werden.

Was ist zu tun?
Welche Rahmenbedingungen brauchen wir, welche Impulse und Anreize kann die Politik setzen, aber welche Verbote müssen auch ausgesprochen werden, um den Leitgedanken der Suffizienz mit Leben zu erfüllen und den erforderlichen (Werte) Wandel zu einem Leben mit dem „richtigen Maß“ zu fördern? Welche Schritte muss Politik in die Wege leiten, damit ein ressourcenleichtes Leben und Wirtschaften möglich und einfach und eigentlich der Normalfall wird? Wie können Menschen für einen sozial und ökologisch gerechteren Lebensstil gewonnen werden?

Einführung von neuen Indikatoren zur Messung unseres Wohlstandes
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Maßstab für den Wohlstand unserer Gesellschaft ist unzureichend und sogar irreführend. So erhöhen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und die Zerstörung der Umwelt sogar noch seinen Wert und führen zu einer falschen Bewertung.
Will man solide Aufklärung über menschliches und ökologisches Wohlergehen, müssen zusätzliche Indikatoren für Nachhaltigkeitsziele mit einbezogen werden, wie z. B. der Sustainable Development Index (SDI) oder der Nationale Wohlstandsindex.

Verbesserung politischer Rahmenbedingungen
Verwaltung, Politik, Kommunen und Unternehmen können verbesserte Rahmenbedingungen für ein ressourcenleichteres Leben und mehr Lebensqualität schaffen. Vor allem Städte und Gemeinden können eigene Beiträge leisten: Mit einer nachhaltigen Stadtentwicklung, weniger Flächenverbrauch, dezentrale Energieversorgung, aber auch mit kurzen Wegen und einem Ausbau von ÖPNV und des Radwegenetzes. 11)

Einführung eines Lieferkettengesetzes
Der unvermeidbare Abbau von Ressourcen darf nicht auf Kosten von Mensch und Natur in den Abbauländern gehen. Dazu werden transparente und faire Lieferketten gebraucht und eine sichere Gewährleistung von menschenrechtlichen, sozialen und ökologischen Standards beim Abbau und der Verarbeitung. Es bedarf einer verpflichtenden (längst überfälligen) gesetzlichen Regelung, die Unternehmen für Schäden an Mensch und Umwelt in ihren Lieferketten haftbar macht.

Umsetzung der Idee der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ)
Die GWÖ ist ein Wirtschaftsmodell, in dem das gute Leben für alle, hier und anderswo, jetzt und in Zukunft, für Mensch, Tier und Natur oberstes Ziel ist. Herzstück ist die Gemeinwohlbilanz. Damit können Unternehmen ihre Leistungen für das Gemeinwohl nachweisen. Der unternehmerische Erfolg wird dabei an seinem Beitrag zum Wohle der Gesellschaft gemessen.
Dazu zählen Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit sowie demokratische Mitbestimmung und Transparenz. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat die GWÖ bereits anerkannt und empfohlen. Bilanzieren können Unternehmen, Gemeinden und Bildungseinrichtungen. Auf lokaler Ebene sollte dieses Modell bekannt gemacht und dafür in Industrieländern geworben werden.

Fazit:
Alle Menschen auf diesem Planeten, heutige und zukünftige Generationen haben einen Anspruch auf ein Leben in Würde. Gleichzeitig müssen die planetaren Grenzen beachtet werden. Dazu müssen wir vor allem in den westlichen Industrieländern unsere Wirtschaftsweise ändern. In einer begrenzten Welt mit endlichen Ressourcen bedeutet Wachstum Zerstörung. Wir benötigen ein neues Verständnis von Wohlstand. Leitfragen sind dabei: Wie viel ist genug? Und: Sind wir bereit zu teilen? Suffiziente Ansätze helfen den absoluten Ressourcenverbrauch zu senken und die noch vorhandenen Rohstoffe weltweit gerecht zu verteilen.

5. Gesundheit als Recht und nicht als Ware

Wie ist die Situation?
Das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft muss neu justiert werden. Das gilt vor allem für die öffentliche Daseinsvorsorge. Ob Gesundheit, Wohnen, Bildung – in den letzten Jahrzehnten handelten Politik und Kapital oftmals nach dem Motto: So viel Markt wie nötig und so wenig Staat wie möglich – es sei denn, es herrscht Krise und der Steuerzahler muss eingreifen. So ergab sich folgerichtig eine Welle der Privatisierung von Gemeingütern: Zigtausend Wohnungen, die Bahn, viele Krankenhäuser, Strom- und Wasserversorgung, sogar Schulen und Universitäten wurden zumindest in Teilen den Gesetzen des Marktes unterworfen. Mit der Folge, dass sich ein großer Teil der Gesellschaft ein Leben in guter Vorsorge nicht mehr leisten konnte oder kann – wie beim Wohnen.
Die Folgen dieser Politik können auch aus den Fehlentwicklungen in der stationären Gesundheitsversorgung abgelesen werden: Viele Krankenhäuser und Kliniken sind privatisiert oder geschlossen worden. So ist der Anteil der Privatkliniken an der Gesamtzahl der deutschen Krankenhäuser in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Zugleich wurden die stationären Einrichtungen, auch die gemeinnützigen und staatlichen durch das System der „Fallpauschalen“ gezwungen, sich eher für einträgliche Operationen als für das medizinisch Gebotene zu entscheiden.

Was ist zu tun?
Es gilt die zunehmende Ökonomisierung im Gesundheitswesen zu stoppen. Gesundheit darf nicht zu einer normalen Ware werden. Die Erfordernisse der öffentlichen Gesundheit müssen eine höhere Priorität als die Renditeerwartungen privater Investoren erhalten. Gemeinwohl hat über Profitmaximierung zu gehen.
Daraus folgt:

  • Nach der Corona-Krise muss es darum gehen, mit massiven öffentlichen Infrastrukturinvestitionen in Gesundheit, Bildung, Betreuung und Pflege, Grundversorgung, Transport sowie mit einer Stärkung des ländlichen Raums eine möglichst universelle Daseinsvorsorge für alle aufzubauen,
  • Kliniken gehören in die öffentliche Hand oder in den Besitz gemeinnütziger, nicht gewinnorientierter Unternehmen.
  • Die Entscheidung über eine für die Versorgung der Bevölkerung ausreichende Zahl an Kliniken darf nicht dem Markt überlassen werden, sondern muss politisch getroffen werden,
  • Kliniken dürfen nicht nach dem Muster von Wirtschaftsbetrieben funktionieren und nicht länger in betriebswirtschaftliche Zwänge getrieben werden, die dem Wohl von Patienten entgegenstehen (z. B. „Fallpauschalen“).
  • Ärzte können so die Freiheit zurückgewinnen, wieder ausschließlich nach medizinischen Gründen zu entscheiden.
  • Die Corona-Krise hat gezeigt, dass systemrelevante Tätigkeiten nicht nur im Finanz- und Wirtschaftssektor geleistet werden, sondern auch in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen, Lagerhallen, an Supermarktkassen etc. Der aktuell gezeigte Respekt für diese Tätigkeiten muss sich nun auch bei der Entlohnung, bei Konzepten gegen die Altersarmut und familienfreundlichen Arbeitsbedingungen zeigen.

Fazit:
Im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge benötigen wir einen Paradigmenwechsel. Die politisch forcierte Privatisierung und die zunehmende Ökonomisierung sind zu stoppen. Das gilt für den Gesundheitsbereich wie für andere Bereiche: Wohnen, Bildung, Wasser- und Stromversorgung etc.
Bei der stationären Gesundheitsvorsorge sind die aufgetretenen Fehlentwicklungen zu korrigieren.

6. Würde statt Elend – solidarische Wege aus der Corona-Krise

Wie ist die Situation?
Die Corona-Krise trifft die Länder des globalen Südens am stärksten. Dort trifft die Pandemie Menschen, die schon zuvor unter Armut, Hunger, Kriegen, Flucht und den Auswirkungen des Klimawandels gelitten haben, besonders hart. Ihre Gesundheitssysteme sind unterfinanziert und oftmals nicht auf eine Pandemie vorbereitet. Länder mit Kriegszonen, Hungergebieten und Bürgerkriegsschauplätzen haben kaum Möglichkeiten, ihre Gesellschaften zu schützen. Hygieneregeln wie Händewaschen lassen sich in Slums oder kleinen Blechhütten ohne Zugang zu Wasser nicht realisieren. Ausgangssperren treiben Menschen in den Hungertod.
Als Händler, Friseure, Touristenführer und Fahrer können sie sich Abstand nicht leisten. Ausreichende soziale Sicherungssysteme fehlen meist. Finanzielle Rettungsschirme lassen sich kaum aufspannen. Der Einbruch der Rohstoffpreise und ein gewaltiger Schuldenberg machen den Entwicklungsländern zusätzlich zu schaffen.
Die mühsamen Aufbauerfolge der vergangenen Jahre mit einer langsam wachsenden Mittelschicht, Industrieproduktion und Tourismus drohen vernichtet zu werden. Die wirtschaftlichen Schäden sind enorm. Die Entwicklungsorganisation Oxfam warnt, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie könnten fast eine halbe Milliarde Menschen zusätzlich in Armut stürzen.12)
Die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen haben sich 2015 auf 17 nachhaltige Entwicklungsziele verständigt (Agenda 2030). Dazu zählt das Ziel Nr. 3: „Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters zu gewährleisten und ihr Wohlergehen zu befördern“. Daraus ergeben sich für die gesamte Staatengemeinschaft und damit auch für Deutschland Verpflichtungen:
Es gilt den Corona-Virus in den Entwicklungs- und Schwellenländern einzudämmen, das Recht auf Gesundheit für alle durchzusetzen und das Gesundheitssystem weltweit zu stärken. Dazu bedarf es einer angemessenen und verlässlichen Finanzierung durch die internationale Gemeinschaft. Die Vereinten Nationen fordern ein Hilfspaket von 2,5 Billionen US-Dollar, um den katastrophalen Konsequenzen der Pandemie und einer globalen Rezession für die Länder des globalen Südens zu begegnen.

Was ist zu tun?
Vor diesem Hintergrund werden die Bundesregierung und der Bundestag aufgefordert:

  • sich für einen umfassenden Schuldenerlass für arme Länder im Umfang von einer Billion Dollar einzusetzen, wie es von Entwicklungsminister Müller vorgeschlagen und von dem deutschen Entschuldungsbündnis – „erlassjahr.de – Entwicklung braucht Entschuldung e.V.“ gefordert wird,
  • internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu stärken und die internationale Zusammenarbeit auszubauen,
  • zusätzliche finanzielle Mittel für humanitäre Hilfen für Geflüchtete, Vertriebene und besonders verletzliche Gruppen (Frauen, Kinder, ethnische Minderheiten, Behinderte) bereitzustellen. Dazu sind die freiwilligen Beiträge an die WHO signifikant zu erhöhen.
  • den Etat der deutschen Entwicklungszusammenarbeit von derzeit 0,61 Prozent (2018) auf mindestens den UN-Richtwert von 0,7 Prozent des Bruttonationalprodukts zu steigern,
  • sich dafür einzusetzen, Corona-Impfstoffe und Medikamente patentfrei für alle Menschen verfügbar zu machen.

Der ehemalige Sonderbeauftragte für extreme Armut, Philip Alston, hat die bisherigen Hilfsangebote der Industrieländer für von der Pandemie betroffene, arme Regionen „erbärmlich und herzlos“ genannt. „Eine unsolidarische Welt kann die Pandemie nicht besiegen. Niemand von uns ist in Sicherheit, solange nicht alle in Sicherheit sind“, so der WHO-Generaldirektor Tedros Aghanom Ghebreyesus.

Fazit:
Die Corona-Krise trifft die Länder des globalen Südens am stärksten. Es gilt den Corona-Virus in den Entwicklungs- und Schwellenländern einzudämmen, das Recht auf Gesundheit für alle durchzusetzen und das Gesundheitssystem weltweit zu stärken. Dazu bedarf es einer angemessenen und verlässlichen Finanzierung durch die internationale Gemeinschaft. Die ist bis heute völlig unzureichend. Niemand auf der Welt ist in Sicherheit, solange nicht alle in Sicherheit sind.

7. Partnerschaft statt Ausbeutung – Gerechtigkeit im Welthandel

Wie ist die Situation?
Die Länder des globalen Südens müssen in der Lage sein, den Gesundheitsbedürfnissen ihrer Bevölkerungen aus eigenen Kräften Rechnung zu tragen. Das geht nur durch eine erhebliche Steigerung ihrer Wirtschaftskraft und der Staatseinnahmen. Behindert werden solche Entwicklungsmöglichkeiten durch die EU-Handels- und Agrarpolitik (Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPAs) sowie die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP).
Am Beispiel Afrikas zeigt sich, wie diese Abkommen die Entwicklung der Länder des globalen Südens beeinträchtigen. Die Verträge schreiben die Öffnung von Märkten sowie den Wegfall von Zöllen vor. Europäische Waren gelangen so auf die afrikanischen Märkte und machen den dortigen Produzenten Konkurrenz. Die EU hat ihre Agrarüberschüsse (Milchpulver, Hähnchenteile, Zwiebeln) auf dem afrikanischen Kontinent einfach entsorgt und dazu beigetragen, dass viele Bäuerinnen und Bauern ihre Perspektive in der Landwirtschaft verloren haben und verarmt sind.
Die Agrarexporte der EU bestehen zu mehr als der Hälfte aus verarbeiteten Produkten der Nahrungsmittelbranche. Das hat den Aufbau einer eigenen konkurrenzfähigen Nahrungsmittelindustrie, mit der mehr Wertschöpfung und Arbeitsplätze im Lande geschaffen werden könnten, erheblich blockiert. Die Abhängigkeit von EU-Importen wurde erhöht. Dank dieser Agrar- und Handelspolitik hat die EU eine Spitzenstellung im Welthandel.
Sie ist der Profiteur der Handelsbeziehungen. Für die afrikanischen Länder bleibt – wie zu Kolonialzeiten – die Rolle als Absatzmarkt und Rohstofflieferant. Ähnliche Erfahrungen haben auch andere Länder aus Latein- und Mittelamerika mit der EU gemacht.
Die aufgezeigten Strukturen zeigen, dass ein weniger entwickeltes Land ohne gezielte Industrieförderung und den Schutz von Zollschranken gegen die überlegende Konkurrenz aus den westlichen Industrieländern nicht bestehen kann. Beides sollte diesen Ländern daher in Handelsabkommen mit der EU zugestanden werden. Perspektivisch lässt sich mehr Unabhängigkeit von ausländischen Wirtschaftsinteressen am ehesten dadurch erreichen, dass die eigenen, regionalen Wertschöpfungsketten gestärkt und zwischenstaatliche Handelsbarrieren abgebaut werden.

Was ist zu tun?
Die Handelsregeln zwischen den Ländern des Nordens und Südens müssen gerecht werden. Dazu ist eine grundlegende Reform der EU-Handelspolitik erforderlich. Darüber hinaus müssen zukünftig Handelsabkommen soziale und ökologische Folgen stärker gewichten, ebenso die Lage der Menschenrechte. Verstöße, etwa gegen Nachhaltigkeitskriterien sind zu sanktionieren. Das alles fehlt z. B. beim geplanten Mercosur-Abkommen mit Staaten in Südamerika. Damit multinationale Unternehmen und Investitionskanzleien sich nicht auf Kosten der Gesundheit und öffentlicher sozialer Sicherung an der Pandemie bereichern, darf die Regierungssouveränität nicht eingeschränkt werden. Neue Investor-Staats-Schiedsklauseln (ISDS) darf es nicht geben, vorhandene sind zu beenden. (ISDS ist ein Streitschlichtungsverfahren zwischen Investor und Staat).
Für die zukünftige Handels- und Agrarpolitik der EU bedeutet das:

  • keine weitere Öffnung afrikanischer Märkte ohne Schutzmaßnahmen für die Eigenproduktion (Zölle, Förderung lokaler Märkte ),
  • Neuausrichtung der GAP (für die Jahre 2020-2027) mit Verpflichtung, die nachhaltigen Entwicklungsziele der Agenda 2030 zu beachten (z.B. Berücksichtigung aller Umwelt- und Klimakosten bei der Preisbildung landwirtschaftlicher Erzeugnisse),
  • Unterstützung beim Aufbau eigener regionaler Binnenmärkte.
  • grundlegende Reform der EU-Handelspolitik mit mehr Gewicht auf Klima, Umweltschutz und Menschenrechte und ohne Investor-Staat-Schiedsverfahren.

Fazit:
Ohne erhebliche Steigerung ihrer Wirtschaftskraft und der Staatseinnahmen werden die Länder des globalen Südens die Grundbedürfnisse (Gesundheit, Bildung etc.) ihrer Bevölkerung nicht erfüllen können. Die destruktive Agrar- und Handelspolitik der EU wirkt in vielen ärmeren Ländern als Wohlstandsbremse. Erfolge in der Entwicklungszusammenarbeit werden durch die ausbeuterischen Strukturen des Welthandels zunichte gemacht. Wohlstand in ärmere Länder bringen vor allem faire und gerechte Handelsregeln.

8. Ungleichheit als Bedrohung für die Gesundheit

Wie ist die Situation?
Das Corona-Virus traf auf eine Welt, in der die Kluft von Arm und Reich tief war und sich noch ständig vergrößerte. Seit Anfang der Achtzigerjahre haben viele Staaten ihre Institutionen privatisiert, ihre Gewerkschaften zerrieben und den Finanzmärkten freien Hand gelassen. So hat sich die Schere zwischen oben und unten immer weiter geöffnet.
In den letzten zehn Jahren hat sich nach Berechnungen von Oxfam die Zahl der Milliardäre auf der Welt verdoppelt: ihr Gesamtvermögen vermehrt sich um 2,5 Milliarden Dollar – pro Tag. Das Vermögen der ärmsten Hälfte der Weltbevölkerung ist dagegen allein im Jahr 2018 um elf Prozent geschrumpft.
Das war vor der Corona-Krise. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird nun durch Corona nochmals deutlich größer werden – so warnte selbst der Internationale Währungsfonds kürzlich.
Nach Recherchen der Wissenschaftsorganisation „Inequality and Common Good“ sind die reichsten Milliardäre seit der Corona-Krise um 565 Milliarden Dollar reicher geworden. Das Wirtschaftsmagazin Forbes hat eine Liste zusammengestellt, aus der hervorgeht, wer am meisten von der Corona-Krise profitiert hat. Demnach haben die 25 reichsten Menschen der Welt seit dem Höhepunkt der Krise ihr Vermögen um 255 Milliarden Dollar vermehren können. Die wenigen Superreichen auf der Welt sind also noch reicher geworden. Gleichzeitig hat die Armut für Millionen Menschen zugenommen. Die Weltbank hat gerade mittgeteilt, dass sie aufgrund der sich verschärfenden Ungleichheit in diesem Jahr mit zusätzlich 40 bis 60 Millionen absolut Armen rechnet (als absolut arm gilt, wer von weniger als 1,90 Dollar am Tag leben muss).
Die wachsende Ungleichheit hat Folgen für die Gesundheit. In vielen Teilen der Welt sind die Infektionszahlen dort am höchsten, wo die Kluft zwischen Arm und Reich am größten ist. Soziale Ungleichheit ist zu einem zusätzlichen Risikofaktor für die Ausbreitung von Pandemien geworden.
Ein Team von SPIEGEL-Dokumentatoren hat gerade festgestellt, dass die Länder mit der größten Einkommens- und Vermögensungleichheit auch diejenigen sind, die am heftigsten von Corona betroffen sind: die Vereinigten Staaten von Amerika, Brasilien, Südafrika und auch Großbritannien.13)
Gesundheitswissenschaftler haben schon vor zehn Jahren darauf hingewiesen, dass ungleiche Gesellschaften ungesunde Gesellschaften seien. Je ungleicher Einkommen und Vermögen verteilt seien, so stellten sie fest, desto größer seien praktisch alle sozialen und gesundheitlichen Probleme in den betroffenen Gesellschaften.
Hunderte Millionen Tagelöhner, Hausangestellte, Taxifahrer etc. in den Ländern des globalen Südens sind gezwungen, sich das tägliche Essen durch Straßengeschäfte zu sichern. So lebt die Hälfte der Nigerianer von weniger als zwei Dollar pro Tag und wird kaum zu Hause bleiben können, um dem Risiko einer Infektion zu entgehen. Die Reichen halten sich von den Armen fern, nutzen keine überfüllten Busse, gehen nicht auf Märkte und ziehen sich in ihre Häuser und Villen zurück.
Die Corona-Krise vertieft die Kluft zwischen jenen, die um ihr Überleben kämpfen, und den Privilegierten. Gut Ausgebildete und Wohlhabende überstehen die Krise weitgehend unbeschadet. Arme und Schutzlose dagegen werden von Pandemien wie Corona überproportional getroffen. Das alles birgt hohen sozialen Sprengstoff. Vielerorts wachsen Wut und Verzweiflung. Wie wenig eigentlich notwendig ist, um die ungleichen Lebensbedingungen etwas anzugleichen, zeigt eine Berechnung von amerikanischen Ökonomen.
Mit nur einem Bruchteil des Vermögens der Milliardäre könnten jedem Menschen auf diesem Planeten Zugang zu sauberem Trinkwasser und einer Toilette ermöglicht werden. Dabei blieben die Milliardäre immer noch Milliardäre. Mit dem Satz „Ungleichheit ist die Wurzel des sozialen Übels“ hat Papst Franziskus die Situation beschrieben.

Was ist zu tun?
Der internationale Steuerwettlauf der vergangenen Jahre hat zu einer gigantischen Umverteilung von Vermögen zu Lasten der Mittelschicht und Geringverdiener weltweit geführt. Die materielle Ungleichheit auf der Welt wird durch die Corona-Krise nochmals verstärkt und erreicht historisch einmalige Proportionen. Ohne substantielle Zugriffe auf private Gewinne und Vermögen wird sich die Ungleichheit nicht abbauen lassen. Wir benötigen eine deutliche Erhöhung des Spitzensteuersatzes, der Erbschafts- und Vermögensteuer. Zudem brauchen wir ein globales Vorgehen gegen Steuerflucht und Steuervermeidung, die Einführung eines weltweiten Mindeststeuersatzes für Konzerne sowie das Austrocknen von Steueroasen. 14)

Fazit:
Die Corona-Krise verschärft weltweit Ungleichheiten, vertieft die Kluft zwischen Arm und Reich und trifft ohnehin benachteiligte Menschen besonders hart. Deutlich wird ein obszönes und im wahrsten Sinne des Wortes krankmachendes Gefälle zwischen Wohlhabenden und Armen. Ungleichheit ist die Wurzel des sozialen Übels. Ohne Umverteilung des Reichtums und Beseitigung der Schieflagen werden Gesellschaften nicht gesunden können.

Die Notwendigkeit einer grundlegenden Erneuerung unserer Gesellschaft am Beispiel der Absurditäten im Agrarsektor
Die deutsche Fleischindustrie holt das Futter für ihre Tiere aus Ländern, die dadurch ihre eigene Lebensmittelproduktion reduzieren und so Hunger und Armut zu Hause erhöhen. Hierzulande gehen trotz eines Milliardenaufwands in der Agrarpolitik der Verlust an Artenvielfalt, die Verschmutzung von Gewässern, Luft und Boden und das Höfesterben weiter. Die Fleischproduktion selbst ist gekennzeichnet durch qualvolle Massentierhaltung und Tiertransporte und endet auf Schlachthöfen mit menschenverachtenden Arbeits- und Wohnverhältnissen von Arbeitsmigranten – idealer Nährboden für die Verbreitung von Pandemien.
Am Ende des Kreislaufs steht dann der Agrarexport in Entwicklungs- und Schwellenländer, durch den arme Länder ausgebeutet werden.

9. Denken und Handeln – Kooperation und Solidarität statt Konkurrenz und Egoismus

Will die Menschheit nicht ihren eigenen Zusammenbruch herbeiführen, so muss sie lernen, auf einem einzigen Planeten mit begrenzten Ressourcen zu leben. Gegenwärtig werden aber knappe Ressourcen und Umweltgüter so stark beansprucht, dass die Klimakrise bedrohliche Ausmaße erreicht, das Artensterben sich beschleunigt und die planetarischen Grenzen gleich mehrfach überschritten werden.
Umfassende Veränderungen stehen also an, wenn wir mit unserer Lebensweise „nicht vor die Wand“ fahren wollen, so der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber. Dazu gehört auch eine Korrektur des vorherrschenden Menschenbildes in unserem Wirtschaftssystem. Weite Kreise der Politik, der Unternehmensführungen und auch eine Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler verbreiten ein Menschenbild, das von einem rationalen und seinen Eigennutz maximierenden Individuum ausgeht (homo oeconomicus). Werden Menschen aber immer nur als egoistische Kreaturen gesehen, denen es um den eigenen Vorteil geht, werden sich Ziele wie Generationengerechtigkeit, Bekämpfung der weltweiten Armut oder die langfristige Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen nicht erreichen lassen. Systeme, die ethisch-moralische Normen abwerten und den Egoismus belohnen, erzeugen auch Egoismus. Für eine Lösung existentieller Menschheitsfragen zählen aber Eigenschaften wie die Bereitschaft zur Kooperation, Solidarität, Teilen und Verzicht, Empathie, Vertrauen und Verantwortung. Wir benötigen eine Neubetrachtung und Unterstützung der Werte, die Menschen zum sozialen Zusammenhalt befähigen. Dann besteht auch eine Chance, den Glauben an die selbstheilenden Kräfte des Marktes, immerwährendes Wachstum und Konkurrenz, das Streben nach Immer-Mehr und die fortgesetzte Ökonomisierung all unserer Lebensbereiche zu überwinden. Eine Gesellschaft, die als kennzeichnende Eigenschaften des Menschen Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Kaltherzigkeit unterstellt, gefährdet ihre Zukunft. 15)
Wie Wege in eine bessere Zukunft aussehen können, kann mittlerweile in vielen Handlungsfelder exemplarisch gezeigt werden; das reicht von der Energiewende, der Landwirtschaft, der Stadtentwicklung, der Mobilität, dem Recycling, dem Materialverbrauch, dem Klimaschutz, der Biodiversität bis zur Entkopplung von Wohlstand und Naturverbrauch. Hunderte von Mut machenden „Beispielen des Gelingens“ von Initiativen, Projekten, Kooperativen und Organisationen aus aller Welt werden regelmäßig veröffentlicht. Das sind gleichzeitig auch Geschichten von verlässlicher Solidarität, funktionierender Selbstorganisation, gemeinschaftlichem Denken und von hohem Erfindungsreichtum. Die Beispiele zeigen überdies:
Die Zivilgesellschaft erweist sich als entscheidender Wegbereiter für eine globale, nachhaltige Gesellschaft. Je mehr „Geschichten des Gelingens“ erzählt werden können, desto eher gelingt es, Werte zu verändern, die Praxis der Nachhaltigkeit zu verbreitern und aus der Nische einen Strom zu machen.16)
Aufgabe der Politik ist es, Klimaschutz- und Umweltziele so festzulegen, dass sie den begrenzten Ressourcen unseres Planeten Rechnung tragen, und dann die Ziele mit angemessenen Maßnahmen auch zu erreichen.
Die bisherige Politik bleibt aber weit hinter dem zurück, was die Wissenschaft als notwendig erachtet, um die katastrophalen Auswirkungen der ökologischen Krise zu bewältigen. Allzu häufig hat sie sich gescheut Maßnahmen in die Wege zu leiten, die dem Ausmaß der Umweltzerstörungen entsprechen. Die Zeiten sind aber vorbei, in denen suggeriert werden kann, es wäre noch Zeit und der Umstieg tue niemandem weh. Wir haben keine zehn oder zwölf Jahre Zeit, um zu handeln. Wir müssen es jetzt tun. Dazu bedarf es den Mut für das Erforderliche auch dann einzustehen, wenn es politisch nicht für opportun gehalten wird. Nur mit einer mutigen und verantwortungsvollen Politik werden wir die drohende Zerstörung unserer Zivilisation aufhalten können!
Wir alle können jeden Tag Teil der erforderlichen Veränderungen sein, die wir uns für unsere Enkel und Enkelinnen und die gesamte Welt wünschen, indem wir unsere Kaufentscheidungen sozial und nachhaltig ausrichten.
Jeder von uns ist aufgefordert sich zu fragen, wie viel ist genug für mich, was steht mir an Ressourcen zu, wo kann ich Abstriche machen, was ist mir wichtig und bin ich bereit zu teilen. Eine Senkung des Ressourcenverbrauchs und der CO2-Emissionen werden nur möglich sein, wenn wir zur Veränderung der Mobilität, der Ernährung, des Arbeitens, der Freizeit und des Wohnens bereit sind. Schaffen wir eine lebenswerte Welt für alle Menschen!

Anmerkungen & Quellen

1) Vgl. Josef Settele, Joachim Spangenberger, Studie: Die Wahrscheinlichkeit von Pandemien steigt mit zunehmender Vernichtung von Ökosystemen und Biodiversität, RIFFReporter, Juni 2020

2) Vgl. Club of Rome, Aufruf zum Handeln: Aufbruch aus dem planetaren Notstand und Partnerschaft zwischen Mensch und Natur, Offener Brief an die führenden Persönlichkeiten der Welt – Ein gesunder Planet für gesunde Menschen, April 2020

3) Vgl. Gro Harlem Brundtland, Interview in Spiegel-Politik am 05.06.2020

4) Eine Übersicht über die Kriterien der planetaren Belastungsgrenzen und ihre aktuellen Überschreitungen findet sich in Wikipedia.

5) WMO Statement on the State of the Global Climate in 2019, World Metereological Organisation, Genf 2019

6) Vgl. Timothy M. Lenton, Johann Rockström u.a., Climate tipping points-too risky to bet against, in: Nature, Vol. 575, November 2019

7) Vgl. Joeri Rogelj, Piers M. Forster, u.a. (2019): Estimating and tracking the remaining carbon budget for stringent climate targets, 2019

8) Wer erst 2050 klimaneutral sein will, verfehlt das 1,5 – Grad-Ziel, Frankfurter Rundschau, 25.08.2019

9) Zum ökonomischen Umgang mit der Corona-Krise vgl. Manfred Fischedick, Uwe Schneidewind, Folgen der Corona-Krise und Klimaschutz-Langfristige Zukunftsgestaltung im Blick behalten, Wuppertal 2020

10) Vgl. Umweltbundesamt, Die Nutzung natürlicher Ressourcen – Bericht für Deutschland, Berlin 2016

11) Viele konkrete Beispiele in den Bereichen Mobilität, Materialverbrauch, Energie, Landwirtschaft und Ernährung finden sich in BUND, Perspektive 2030: Suffizienz in der Praxis.

12) Zu den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Krise und den erforderlichen Hilfsmaßnahmen für arme Länder vgl. Dignity not Destination – Würde statt Elend, Gerechte Wege aus der Krise, Oxfam, Berlin 2020

13) Ungleichheit ist weltweit ein Risikofaktor, DER SPIEGEL, 15.06.2020

14) Vgl. Netzwerk Steuergerechtigkeit, AG Steuern und Entwicklung, Steuergerechtigkeit, Coronakrise und der globale Süden, Juni 2020

15) Vgl. auch Maja Göpel, die das Menschenbild der Wirtschaftswissenschaften als falsch bezeichnet und fordert, dass es dringend „einem Update unterzogen werden müsse“. Maja Göpel, Unsere Welt neu denken, Berlin 2020

16) Zahlreiche Beispiele vom Gelingen bei uns und in aller Welt finden sich in den Jahresberichten: Dan Gieseke, Saskia Hebert, Harald Welzer (Hg.), Futur Zwei-Zukunftsalmanach, Geschichten vom guten Umgang mit der Welt, Frankfurt

FUgE-Rückblick 2019-2020:
FUgE-Filmnachbesprechung mit Akteuren aus den Süden 2020
=> 2020-10-06_filme-in-der-fuge-bildungsarbeit-20-19.pdf
FUgE-Ausblick 2021-2022:
Programmentwurf
=> fuge-programm-2021-2022_jan-dez.pdf