01.12.2020: Zur Beziehung zw. Abfallproduzent*innen und Wertstoffsammler*innen

Aktuelle Herausforderungen und Perspektiven
Alexandro Cardoso und Benjamin Bunk
FUgE-News Ausgabe 03/2020

Trotz zunehmender Anerkennung und Organisation werden wir immer wieder von unterschiedlichen Seiten bedroht. Etwa in Porto Alegre, wo Volksvertreter der rechtsgerichteten Parteien im Stadtrat uns seit 2003 verbieten wollen, mit unseren Karren Wertstoffe zu sammeln. Mehrmals haben wir seither den Landtag oder das Rathaus besetzt, Straßen blockiert und gegen dieses Gesetz demonstriert. Trotzdem konnten wir nicht verhindern, dass dieses Gesetz 2008 verabschiedet wurde. Und das, wo in Brasilien seit 2008 eine fortwährende Wirtschaftskrise tobt, wo für viele das Wertstoffsammeln die letzte Bastion ist. Seither gilt zwar auch ein befristetes Moratorium für Teile dieses Gesetzes – wir werden geduldet. Dennoch müssen wir dafür alle zwei Jahre erneut auf die Straße gehen. Dieses Jahr war der Kampf durch die Corona-bedingte soziale Isolation besonders schwer, aber es ist uns gelungen, das Moratorium wieder zu verlängern: für noch zwei Jahre.

Die Nationale Abfallpolitik von 2010 sieht die Schließung aller Mülldeponien in Brasilien vor. Leider fand dieser Prozess ohne gesellschaftliche Partizipation und ohne jegliche Planung zur sozialen und wirtschaftlichen Integration der zuvor dort arbeitenden Wertstoffsammler* innen statt. Diese sind nun noch mehr ausgeschlossen. Die Deponien müssen tatsächlich geschlossen werden. Aber davor hätte ein Abfallwirtschaftssystem unter Beteiligung Catadores implementiert werden müssen, um für diese andere sinnvolle Strukturen zu schaffen, um deren Dienstleistungen mit Verträgen abzusichern.

Aktuell kämpfen wir gegen die Politik der Regierung Bolsonaro und seines Umweltministers. Durch eine Verordnung haben sie die zuvor verbotene Müllverbrennung erlaubt, wie auch jene wenigen staatlichen Programme zur Stärkung von Vereinen und Genossenschaften gestoppt. Ohne die Genossenschaften der Wertstoffsammler* innen aber werden wir in den Individualismus und in die Unsichtbarkeit unserer Arbeit auf den Straßen und Müllhalden zurückgedrängt – in die Zeit, in der es keine Gesetze oder Unterstützung für uns gab. In unseren Genossenschaften, die wir selbst aufgebaut haben, finden wir aber auch Solidarität und gegenseitige Unterstützung. Allein in der Region haben wir zum Beispiel den Genossenschaftsverband und den Verein der Wertstoffsammler*innen der Metropolregion von Porto Alegre gegründet, das Catapoa-Netzwerk mit 24 Mitgliedsorganisationen. Über dieses Netzwerk stellen wir den Basisorganisationen technische Beratung und Unterstützung bei der Umsetzung von Projekten zur Verfügung und stellen gleichzeitig deren institutionelle Vertretung dar.

Wenn man sich die Quoten des Recyclings in Brasilien genau anschaut, stößt man schnell auf große Unterschiede. So beziffert etwa das Umweltministerium die Recyclingquote in Brasilien auf 3 %. Währenddessen zeigen die Daten des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IPEA) aber andere Prozentsätze für das Recycling von einzelnen Werkstoffen. So werden 98,2 % der Alu- Dosen und Glas zu 47 % recycelt. Dies zeigt, dass die Recyclingquote bei den Wertstoffen, die von uns gesammelt werden, deutlich höher ist. Die niedrige Quote, die vom Ministerium veröffentlicht wurde, hat jedoch massive Auswirkungen auf die Catadores, denn sie schmälert unsere Bedeutung für die Gesellschaft und verkennt damit die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Werte, für die wir stehen und wodurch wir einen Beitrag zum Erhalt unseres Planeten beitragen. Diese Daten machen unsere Arbeit absichtlich unsichtbar, um Privatisierungen, Müllverbrennung und ausgrenzende Gesetze zu rechtfertigen. Denn in der Tat stellen die ausgeschlossenen, unsichtbaren und manchmal kriminalisierten Wertstoffsammler*innen die wichtigsten Akteure des Recyclings dar.

Gegenüber dieser Politik verfechten wir eine „soziale Kultur des Recyclings“, eine andere Verbindung zwischen Abfallproduzent* innen und Wertstoffsammresammler*innen. Diejenigen, die den Müll trennen und direkt an uns abgeben, lernen dabei umzudenken und die andere Dimension des Abfalls zu sehen: nicht als Abfall und verschmutzenden Rohstoff, sondern als Wertstoff, der durch die Hände der Catadores zu einer Einkommensquelle wird. Hier erleben wir tagtäglich, wie sich Solidarität und Empathie konkretisieren können. Eine soziale Kultur des Recyclings führt zu Solidarität, weil man das Gute in seinem Handeln erkennt, und zu Empathie, weil man sich in die Situation des Anderen versetzt, wohl wissend um die Prekarität dieser Arbeit. Vielleicht, mit der Zeit, können jene die ihren Müll bereits zu Hause trennen, die gleiche Schönheit wie wir Catadores sehen, wenn wir das Material bekommen. Der Abfall bekommt durch die Idee des Recycling eine neue Bedeutung, von hässlich, schmutzig, verschwendet und umweltschädlich, zu einem Wertstoff als schöne, saubere Quelle von Arbeit, Einkommen, Leben und Umweltschutz.

Wir Catadores eignen uns das Wissen über die richtige Mülltrennung bereits von früh an, denn wir sind darauf angewiesen den Wertstoff gut zu trennen, um ihn zu einem besseren Preis zu verkaufen. Neben der schweren Arbeit, welche die Sammlung und Trennung von recycelbaren Materialien darstellt, verrichten wir nebenbei, durch das Aussortieren von unverwertbarem Abfall, eine unbezahlte Arbeit. Wir erfahren dies tagtäglich durch das Gewicht unserer Müll- Sammel-Karren und den Aufwand durch nicht vor-sortiertem Abfall in den Recycling-Kooperativen. Denn unser Einkommen besteht nur aus dem, was wir vermarkten können. Die (Abfall-)Produzent*innen aber müssen wir erst noch davon überzeugen, die Wertstoffe vom Restmüll zu trennen, sonst arbeiten wir härter und verdienen weniger. Auf diese Weise werden wir durch unsere Tätigkeit zu wahren Umweltpädagogen.
Unsere Arbeit erledigen wir mit unseren Körpern als wichtigste Antriebskraft und vor allem mit unserem Wissen. Wir verstehen, dass jede/r Wertstoffsammler*in auf der Straße für die Abfallunternehmen weniger Gewinn bedeutet, denn jede recycelte Tonne ist eine Tonne weniger, die auf die Entsorgungsanlage geschüttet wird und wofür diese vom Staat bezahlt werden – die Entsorgungsfirmen sehen unsere Recyclingarbeit so als Verlust.

Im Sinne einer sozialen Kultur des Recyclings müssten die Regierungen dazu übergehen, uns für unsere Dienstleistung des Recyclings zu bezahlen, was zugleich unsere existentielle Situation und die Arbeitsbelastung verringern würde. Der brasilianische Staat ist aber nicht sensibel für die Menschen, die besonders Aufmerksamkeit brauchen: die Kleinen, die Kranken, die Alten, die Frauen, die Armen – jene, die keine andere Wahl haben, als als Wertstoffsammler* innen zu arbeiten. Das spiegelt sich in Gesetzesentwürfen wider, die auf Verfolgung und Verbot setzen und so zu einer Kriminalisierung der Catadores führen. Es ist fast absurd, dass der Staat versucht, eine der Kulturen zu verbieten, die so viele Arbeitsplätze schafft und die eine lokale Kreislaufwirtschaft stärkt und gerade den armen Familien der Stadt zu mehr Einkommen verhilft.

Ein Perspektivwechsel zur Kreislaufwirtschaft, der Abfall eine neue Bedeutung verleiht
Wir alle brauchen die Natur zum Leben, wir sind ein Teil von ihr und existieren nicht getrennt von ihr. Ohne die Natur und ihre natürlichen Ressourcen würden wir nicht überleben. Alles, was wir besitzen, ist Natur in verwandelter Form, die durch unsere Arbeit, unser Wissen und unsere Technologien entsteht. Allerdings könnte die Natur viel besser ohne uns Menschen leben – und das konnten wir deutlich durch die kollektive Quarantäne wegen der Covid-19-Pandemie erleben. Manche – und es sind nicht wenige – behaupten, der Mensch sei ein Tumor auf dem Planeten. Stimmt das wirklich?

In den letzten Jahrzehnten wurde Recyceln von einem unterbewerteten, zuvor nur von „nervigen Ökos“ behandelten Thema weltweit zu einer der zentralen Herausforderungen. Die Wissenschaft, die Wirtschaft und die Politik ebenso wie die Schulen und lokalen Gemeinschaften, begannen Gesetze und technische Normen zur Abfallwirtschaft umzusetzen. Recycling wird zunehmend zu einem kulturell-politischen Symbol für smarte Zukunftsfähigkeit, weshalb auch der 17. Mai von der UNESCO als Internationaler Tag des Recyclings deklariert wurde.
Unser alltäglicher Verbrauch, der unser Leben aufrechterhält, wirkt sich auf unsere Umwelt aus. In der Praxis verwandeln wir die Natur in Dinge, insbesondere Energie und Lebensmittel – die der Kapitalismus Produkte nennt, da er diese verkauft. Von Geburt an erzeugen wir Abfall, und wenn wir sterben, werden wir selbst zu Abfall – ein selbstverständlicher Zyklus. All jene Dinge, die wir verbrauchen, ohne sie zu verwandeln, kehren zu diesem natürlichen Kreislauf zurück. Aber einige chemische Eigenschaften und andere Faktoren machen den Müll zu einem Übel für die Natur.

Deshalb sollten wir vermeiden, immer neue Sachen zu kaufen, neuen potenziellen Müll zu produzieren und falls es doch notwendig sein sollte, Konsumgüter möglichst wiederverwenden. Dann, wenn es nicht anders geht, ist das Recycling der Wertstoffe der nächste Schritt. Wir sollten danach streben, unserer Natur so wenig wie möglich zu schaden. Wenn etwas nicht recycelbar ist, dann sollte es nicht einmal erzeugt und niemals gekauft werden. Wir müssen die bisherige lineare Logik der Ausbeutung und Aufbereitung von Rohstoffen überdenken und zunehmend eine Kreislaufwirtschaft umsetzen.