02.07.2020: Shrinking Spaces in Brasilien

Shrinking Spaces in Brasilien
von Marcos A. da Costa Melo, Promotor für interkulturelle Öffnung im Regierungsbezirk Arnsberg
Zum Interview mit Prof. Antônio Andrioli, Universidade Federal da Fronteira Sul (UFFS) im Rahmen der Eine-Welt-Landeskonferenz 2020

Zum Verständnis des Begriffs „Shrinking Spaces“ in Brasilien
in: http://lako2020.org/shrinking-spaces-in-brasilien
und FUgE news 2/2020
Man benutzt den Begriff Shrinking Spaces, um die eingeschränkten Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft zu kennzeichnen, die in einem Widerstand gegen die Auflösung demokratischer Strukturen steht. Das geht einher mit dem Vormarsch populistischer und rechtsextremer Parteien und Regierungen.
Seit der Machtübernahme der Regierung von Michel Temer durch das Impeachment der demokratischen gewählten Präsidentin Dilma Rousseff 2016 erleben wir einen zunehmenden Zerfall demokratischer Handlungsspielräume in Brasilien. Eine Entwicklung, die nicht nur in Brasilien, sondern auch in zahlreichen Ländern der Welt zu beobachten ist (vgl. Atlas der Zivilgesellschaft 2020). Vor diesem Hintergrund befassen wir uns mit den Fragen:
Wie gehen die Basisorganisationen und ihre Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten mit dieser Situation um? Wie verteidigen sie die über Jahrzehnte hart erkämpften sozialen Fortschritte? Wie können wir unsere Partnerorganisationen von Deutschland aus unterstützen?

Wir stellten im Interview zuerst fest, dass das demokratische System durch politische und ökonomische Interessen und Akteure in Brasilien ausgehöhlt wird, die progressive Kräfte der Zivilgesellschaft schwächen wollen. Unter der Regierung von Michel Temer (2016-2018) und insbesondere unter der Regierung Jair Bolsonaros nehmen autoritäre und repressive Aktionen des Staates zu.

Das passiert u. a. über Einschüchterung, Kriminalisierung, Drohungen, körperliche Gewalt – aber auch über Rücknahme von Finanzierungen für Basisorganisationen, u. a. die MST (Landlosenbewegung), CIMI (Indigenenmissionsrat), ASSESOAR (Verband für Studien und Beratung für den ländlichen Raum in Paraná), IRPAA (Regionalinstitut für angepasste Kleinbauernlandwirtschaft und Tierhaltung in Bahia). Exemplarisch für die Zerstörung demokratischer Strukturen war die Auflösung des Nationalen Rates für Ernährungssicherheit CONSEA (Conselho Nacional de Segurança Alimentar e Nutricional) unmittelbar nach Amtsantritt von Jair Bolsonaro im Januar 2019. Der CONSEA hat seit 2006 durch den Dialog zwischen Zivilgesellschaft und Regierung beispielhaft einen wichtigen Raum für die politische Einflussnahme kleinbäuerlicher Landwirtschaft auf das Versorgungssystem im Land geschaffen, um die Perspektive der Ernährungssicherheit mehr Gewicht im Land zu verschaffen. Die Einschränkung fundamentaler Rechte wird durch die Bedrohung der Gewerkschaften, demokratischer Parteien und NGOs, die Menschenrechtsarbeit betreiben, zunehmend verschärft. Im Jahr 2019 wurden nach Angaben von Frontline Defenders 23 Verteidigerinnen und Verteidiger der Menschenrechte ermordet. Damit hat Brasilien weltweit die fünfthöchste Mordrate an Menschenrechtsaktivisten. (vgl. Atlas der Zivilgesellschaft 2020: „Zivilgesellschaft im Fokus Brasilien“, S. 37)

Zum historischen Hintergrund der Problematik
Die fragile demokratische Struktur in der brasilianischen Gesellschaft ist anscheinend für populistische Parolen anfällig. Nicht nur Fernando Collor de Mello 1989, der erste demokratisch gewählte Präsident nach dem Ende der Militärdiktatur 1985, sondern auch Jânio Quadros 1960 gewannen ihre Präsidentschaftswahlen mit dem Thema Bekämpfung der Korruption.
Der Antikorruptions-Slogan von Jânio Quadros, auch ein Antipolitiker wie Jair Bolsonaro, war die Vassoura (der Besen/Feger): Wir werden mit dem Besen der Korruption ein Ende setzen. Der Slogan von Collor de Mello war ähnlich:
Wir werden der Korruption und dem Luxusleben der Eliten ein Ende setzen. Unter einem Korruptionsverdacht fiel Dilma Rousseff im Jahr 2016. Jair Bolsonaro gewann die Wahl 2018 vor allem mit dem Slogan der Bekämpfung der Korruption der PT, der Arbeiterpartei. Brasilien blickt auf einen langen Demokratisierungsprozess zurück, der mit dem Ende der Militärdiktatur Mitte der 80er Jahre begann, mit der Kampagne „Diretas já“ (Direktwahl des Präsidenten) 1985 fortgesetzt wurde und mit der brasilianischen Verfassung 1988 einen neuen Schwung bekam. Unter der Regierung von Fernando Henrique Cardoso (1994-2002) und vor allem unter der Arbeiterpartei (PT) mit Lula und Rousseff (2003-2016) gibt es zahlreiche positive Entwicklungen in der Versorgungssicherheit zu verzeichnen.

Nennenswert in den Regierungen der PT waren Bolsa Família (Grundeinkommensprogramm), Minha Casa – Minha Vida (Kreditsystem für Wohnungen der armen Schichten) und das Programm PNAE (Programa Nacional de Alimentação Escolar, Schulspeisungssystem). Dieses Schulspeisungssystem garantierte, dass die Lebensmittelversorgung für die Schulen und andere städtische Einrichtungen zu 30 Prozent von kleinbäuerlichen Familien geliefert wird.
Die Tatsache, dass die Arbeiterpartei (PT) unter Lula (2003-2010) und Rousseff (2011-2016) tief in die Korruption verstrickt war, hat die fragile demokratische Struktur des Landes stark geschwächt. Zu bemerken ist, dass in dieser Zeit über 30 Parteien im Parlament vertreten waren, so dass immer wieder Bestechungen stattfanden, auch um soziale Reformen voranzutreiben.

Trotz des Impeachments stellt die Arbeiterpartei 2020 weiterhin die stärkste Kraft in der Linken und im Parlament dar und erreichte bei den Präsidentschaftswahlen 2018 einen Wähleranteil von mehr als 40 Prozent. Es fällt heute schwer, die PT vorbehaltlos zu unterstützen.
Es gibt aber zurzeit in der Opposition keine wirkliche neue Führungskraft. Zudem ist die Linke stark zerstritten. Auf der politischen Ebene hoffen viele, dass es eine Erneuerung der demokratischen Parteien in Brasilien gibt. Viele Proteste, die sich gegen Megaprojekte wie die Fußball-WM 2014, die Olympiade 2016, den Staudamm Belo Monte (Betriebsaufnahme 2016) richteten oder für eine Schulreform, funktionierende Krankenhäuser sowie bezahlbare öffentliche Transportmittel einsetzten, wurden später zu Demonstrationen für das Impeachment gegen Dilma Rousseff umfunktioniert.
Hier entstand eine starke Massenbewegung gegen die PT, die 2018 die Wahl von Bolsonaro unterstützte. Ein Hoffnungsschimmer zeigte sich Anfang 2020, als viele linke progressive Parteien u. a. zwischen PT (Arbeiterpartei), PSOL (ein Linker Flügel der PT), PDT und PSB (Sozialdemokratische Parteien) die Zusammenarbeit beim Aufstellen von Kandidaten für die bevorstehenden Kommunalwahlen zum Thema machten. Wir sind überzeugt, dass ein starkes demokratisches Bündnis eine Grundvoraussetzung ist, um eine stabile Demokratie in Brasilien wiederherzustellen und eine Erneuerung der Parteien voranzutreiben. Nur unter dieser Bedingung kann der Zerfall des Parlaments und des Präsidialsystems Brasiliens gestoppt werden.

Zur Macht der Medien in Brasilien
Bei der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen 2017 belegte Brasilien nach der Machtübernahme von Michel Temer (2016-2018) den Platz 103 von 180 Ländern. Deutschland lag auf Platz 16. Aber die Medienlandschaft des Landes ist komplexer, als es diese Zahlen verraten. Es gibt eine starke Stellung von Medienkonzernen wie Globo, SBT und Band mit ihren TVs, Tageszeitungen und Radios, auf die der Präsident Jair Bolsonaro keinen entscheidenden Einfluss hat. Sie sind nach wie vor die zentralen Meinungsmacher Brasiliens. Die öffentlichen Radio- und Fernsehsender, die seit 2019 demontiert werden, spielen keine große Rolle.
Entscheidender ist die zunehmende Macht der sog. alternativen Medien (Youtube, Facebook, Whatsapp, etc.), die zur Wahl von Bolsonaro 2018 entscheidend beitrugen. Inzwischen spricht man in Brasilien über das sog. Hasskabinett – „gabinete do ódio“ – unter der Kontrolle des Sohnes des Präsidenten, Carlos Bolsonaro, das für Hassparolen in Facebook, Youtube und Whastapp sorgt. In den letzten Jahren ist die Macht der Evangelikalen in Brasilien gewachsen. Sie verfügen mit der Record-Mediengruppe über einen immer einflussreicher werdenden Fernsehsender.
Edir Macedo, der heute zu den reichsten Unternehmern Brasiliens zählt, ist der Begründer der Igreja Universal do Reino de Deus (Universalkirche des Reichen Gottes) und Eigentümer des Senders Rede Record. Zudem machen die Evangelikalen Brasiliens mehr als 30 Prozent des Wählerpotentials und der Abgeordneten im Parlament Brasiliens aus. Während die evangelikale Bewegung stark Anhänger in Brasilien gewinnt, verliert die katholische Kirche Gläubige und Einfluss.

Darüber hinaus bestimmt die Bancada BBB – Bala, Boi e Bíblia, d. h. Blei- (für die Macht der Militärs), Bullen- (für die Macht der Oligarchie) und Bibelfraktion (für die Macht der Evangelikalen) – mehr als 50 Prozent des politischen Geschehens im brasilianischen Parlament. Zudem zeichnet es sich ab, dass ein weiteres B dazu kommt, das für die Machtpolitik der Anhänger der Regierung Bolsonaro steht.

Aufgrund dieser Entwicklungen sieht die Lage der sozialen Bewegungen in Brasilien sehr schlecht aus. Dies gilt insbesondere für die Frauenbewegung, die LGBTs, die Landlosenbewegung und die Organisationen der Indigenen, die in ihren Schutzgebieten mit der wachsenden Macht des Agrobusiness zu kämpfen haben. Rund 13 Prozent des brasilianischen Staatsgebietes wird von Indigenen bewohnt. Diese Gebiete haben einen wichtigen Beitrag zum Erhalt des Regenwaldes geleistet. Doch Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro will die Schutzgebiete für Bergbau, Energiegewinnung und andere wirtschaftliche Nutzungen freigeben.
Mehr zu diesem Interview unter Eine Welt Landeskonferenz 2020 online

Mit der freundlichen Unterstützung des Programms für interkulturelle Öffnung im Regierungsbezirk Arnsberg und „Bildung trifft Entwicklung“ (BtE) Eine Welt Netz NRWLogo_Promotoren-NRW.