Juni 2023: Kolonialismus ist in Hamm unerforscht

von Marcos A. da Costa Melo
Aus der FUgE-News Ausgabe 01/2022
in: https://fuge-hamm.org/2022/01/01/fuge-news-ausgabe-01-2022

Die Aktualität des Rassismus ist zuletzt durch den Tod von George Floyd in Minneapolis und die #blacklivesmatter-Bewegung immer wieder in das Bewusstsein gerufen worden. Und in Debatten darum hat die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe und das damit geprägte Bild von schwarzen Menschen an Bedeutung gewonnen.
Und so richtete sich der Blick in den vergangenen Jahren auf die Zeit des Kolonialismus, auch im Rahmen von regionaler oder lokaler Geschichte. Ute Knopp, Leiterin des Stadtarchivs, und Dr. Maria Perrefort, Kuratorin für Stadt- und Regionalgeschichte des Gustav- Lübcke-Museums, nahmen sich des Themas an und referierten auf Einladung von FUgE am 16. Februar 2022 im Technischen Rathaus. Dabei wurde vor allem klar: Viel geforscht dazu wurde noch nicht.

2022-02-16_gruppenfoto-kolonialismus-name

Eine einzige dünne Mappe gebe es im Stadtarchiv, sagte Ute Knopp, die zu dem Thema passe. Unter der Überschrift „Vereine: Kolonien“ seien spärliche Unterlagen zur deutschen Kolonialgesellschaft und zum Reichskolonialbund zusammengefasst. „Das war‘s“, sagte Knopp. Dazu listete das Adressbuch 1886 gerade sieben Händler „en détail“ auf, die mit Kolonialwaren zu tun hatten. Die erste EDEKA-Genossenschaft entstand 1898, als sich 21 Kaufleute aus dem Deutschen Reich zur Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler in Berlin zusammenschlossen.

1889-04-02_WA_1889_Anzeige_zum_VortragKnopp zeichnete die nur bruchstückhaft dokumentierte Geschichte der Hammer Abteilung der deutschen Kolonialgesellschaft nach. Sie nennt Vorsitzende und Akteure sowie Veranstaltungen. Der Verein versuchte, das Interesse der Hammer für die Kolonialpolitik zu wecken sowie die Regierung und Reichstag zu kolonialen Annexionen zu drängen. In Hamm wurden häufig Lehrer und Oberstudienräte zu Vorsitzenden der Abteilung gewählt. Stets mit dabei: Emil Griebsch, der offenbar nicht nur ideelle, sondern auch kommerzielle Interessen hatte.
Beispiel für eine Veranstaltung: Der Vortrag von Paul Reichard am 3. April 1889. Wikipedia nennt den 1854 geborenen Neuwieder „Afrikaforscher“ – Tatsache ist, dass er an einer etwa fünfeinhalb Jahre dauernden „Expedition“ der „Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland“ teilnahm. Darüber berichtete er im Saal der Hammer Harmonie-Gesellschaft.
Mit der Zeit sei das Interesse an den Vorträgen und anderen Aktivitäten der Abteilung kontinuierlich gestiegen, sodass der Verein zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine durchaus wahrnehmbare Rolle in der Stadtgesellschaft gespielt hat, so Knopp. 

Reiter_Kolonialkrieger_1917-1918

Anschließend berichtete Dr. Maria Perrefort, Kuratorin für Stadtund Regionalgeschichte im Gus – tav-Lübcke-Museum, über die Tätigkeit des – etwas skurril wirkenden – Mumienvereins in Hamm. 1886 hatten sich in diesem Verein Honoratioren zusammengetan, um eine altägyptische Mumie nach Hamm zu holen. Die Männer schwammen gleichsam auf einer hohen Welle der Ägyptenbegeisterung, die in kulturell ausgerichteten Kreisen damals sehr verbreitet war. Begleitend bot der Mumienverein Vorträge an, die Information verhießen, doch eher das exotische Interesse bedienten und das koloniale Geschichtsbild festigten.
Während die Europäer bei ihren „Entdeckungen“ vorgaben, der indigenen Bevölkerung Afrikas aus seiner „Unterentwicklung“ endlich zu Kultur und Zivilisation zu verhelfen, ließ sich dieses Narrativ auf Ägypten, ein Land mit einer beeindruckenden Kulturgeschichte, nicht anwenden. Also verstanden sich Engländer und Franzosen, die Ende des 19. Jahrhunderts in Ägypten das Sagen hatten, kurzerhand als legitime Erben der altägyptischen Hinterlassenschaften. Auch wenn man in Hamm z. B. Vorträge über „Ägypten, wie es heute ist“ hörte, ging es dabei doch meist um die Geschichte der alten Pharaonen.

Die Ausfuhr der Mumie wickelten Briten, Franzosen und der deutsche Museumsangestellte unter sich ab. Sie wurde dann im Res – taurant Juckenack in der Großen Weststraße gezeigt. Anschließend wurde sie im Museum gelagert – bis sie bei einem Luftangriff im Zweiten Weltkrieg verbrannte.
Was die Menschen in Ägypten dazu zu sagen hatten, spielte keine Rolle. Der aktuellen Bevölkerung begegnete man mit Desinteresse oder mit einem deutlichen Überlegenheitsgestus. Das wird deutlich: Gegenüber den religiösen Gepflogenheiten der Frauen und Männer in den 1880er Jahren ließen die Europäer es an jeglichem Respekt fehlen.
Der Export der Mumie war nicht illegal – es gab kein Gesetz, das übertreten wurde – es galt schlicht das Gesetz der Stärkeren – Fundteilung nach eigenem Gusto. Wenn wir die Frage der Kulturausfuhr heute anders sehen, folgen wir einer dekolonialistischen Dekons – truktion – oder anders: einer neuen Vorstellung von gerechter Moral.

1887-04-01_Mumie-Verein-Bild_Perefort

Die Vorträge von Ute Knopp und Dr. Maria Perrefort sollen nur der Beginn der Beschäftigung mit dem Thema Kolonialismus in Hamm sein. Gesucht wird eine professionelle Auswertung der vorhandenen Quellen.
Mehr zum Forum „Kolonialismus in Hamm“ (PPP/Fotos/Audio-Aufzeichnung) unter www.fuge-hamm.org/auf-den-spuren-des-kolonialismus-in-hamm-2

Bildmaterial: Stadtarchiv Hamm

Kolonialismus wirkt bis heute
Marcos A. da Costa Melo
Im Rahmen der Kolonialismus-Veranstaltung zeigte Serge Palasie, Fachpromotor für Flucht, Migration und Entwicklung, eine von ihm konzipierte Ausstellung, die sich mit dem deutschen Kolonialismus beschäftigt. Darin blickt er in die deutsche Vergangenheit vor dem ersten Weltkrieg zurück und führt die Gäste durch seine Ausstellung „Sichert(e) sich auch unser Land einen Platz an der Sonne? Der lange Schatten der deutschen Kolonialzeit“.
Die Meinung, dass die Deutschen ja nur eine kurze Zeit eine übersichtliche Zahl von Kolonien gehabt habe und deswegen wenig mit Kolonialismus zu tun habe, ist ebenso weit verbreitet wie falsch. Das macht Palasie in der aus sechs Bannern bestehenden Ausstellung klar. Palasie: „Diese Spuren des deutschen Kolonialismus sind in mehrfacher Hinsicht relevant, um globale ungleiche wirtschaftliche Verflechtungen in Verbindung mit Flucht und Migration, aber auch Rassismus und Identität in Deutschland zu verstehen.“ Und selbst der von Menschen gemachte Klimawandel spielt in der Ausstellung eine wesentliche Rolle. Die Ausstellung war in verschiedenen Schulen und in der VHS Hamm zu sehen und kann über FUgE ausgeliehen werden.
Mehr zur Ausstellung unter https://eine-welt-netz-nrw.de/fileadmin/ewn/data/Themen/Flucht_Migration/Platz_an_der_Sonne-Ausstellung.pdf

Ausstellung „Sichert(e) sich auch unser Land einen Platz an der Sonne?
Der lange Schatten der deutschen Kolonialzeit“
Rassismus, Menschenrechtsverletzungen im Rahmen unfairer internationaler Handelsbeziehungen, Klimaungerechtigkeit: Das koloniale Erbe ist allgegenwärtig. Dabei ist seine Überwindung neben rein moralischen Aspekten zunehmend im ureigenen Interesse der ganzen Gesellschaft nötig. Innergesellschaftlich können wir nicht zulassen, dass rassistisch argumentierende Politik wieder an Boden gewinnt. Denn: Deutschlands Zukunftsfähigkeit hängt maßgeblich davon ab, ob sich alle Potentiale optimal entfalten können. Talent und Innovation sind unsere einzigen Rohstoffe. Eine neue Erinnerungskultur muss sicherstellen, dass sich auch die wachsende Zahl nicht-weißer Deutscher mit Deutschland zunehmend identifizieren kann. Erst wenn wir hier bedeutende Fortschritte machen, können wir auch zwischengesellschaftlich vorankommen und globale Ungleichheiten, die auch Fluchtursache sind, verringern. Angesichts globaler Herausforderungen, die wir immer weniger nach Nationalitäten und Hautfarben sortiert lösen können, ist dies dringend nötig. Eine exklusive Solidarität ist am Ende ein Schuss ins eigene Knie.

sonne-der-kolonialzeit

Eine Zivilisation, die sich unfähig zeigt, die Probleme zu lösen, die durch ihr Wirken entstanden sind, ist eine dekadente Zivilisation.
Eine Zivilisation, die beschließt, vor ihren brennendsten Problemen die Augen zu verschließen, ist eine kranke Zivilisation.
Eine Zivilisation, die mit ihren eigenen Grundsätzen ihr Spiel treibt, ist eine im Sterben liegende Zivilisation“
Aimé Césaire