01.07.2023: Cerrado – Schlüsselregion der Neuausrichtung Brasiliens

Die harten Konflikte um die Ausrichtung der Landwirtschafts-, Vieh- und Forstwirtschaft werden in den nächsten Jahren insbesondere im Cerrado stattfinden.
Von Dieter Gawora
In: FUgE-News Ausgabe 01/2023

In Brasilien wurde mit der Amtseinführung von Luis Inácio Lula da Silva der sozial und ökologisch verheerende vierjährige rechtsradikale Alptraum „Bolsonarismo“ beendet. Nach Einschätzung vieler internationaler Beobachter hat die Wahl Lulas die brasilianische Demokratie gerettet. Mit der Wahl sind große soziale Erwartungen verbunden, insbesondere die erneute Beendigung des zurückgehrten Hungers und auch, dass Brasilien seiner besonderen ökologischen Verantwortung für den Planeten gerecht wird. Mit den Verlautbarungen Lulas, in den ersten Wochen seiner Amtszeit, gibt es begründete Hoffnungen, dass sich die Erwartungen bei der Hungerbekämpfung als auch für die Umwelt zumindest in Bezug auf Amazonien erfüllen könnten. Hingegen erfährt der Cerrado, die große zentralbrasilianische Savannenlandschaft, weniger Aufmerksamkeit, obwohl die soziale als auch die ökologische Bedeutung des Cerrados nicht weniger bedeutsam ist als die Amazoniens. Die harten Konflikte um die Ausrichtung der Landwirtschafts-, Vieh- und Forstwirtschaft, die wesentlich für die brasilianischen Exporterträge sind, werden in den nächsten Jahren insbesondere im Cerrado stattfinden. Eine tiefere Auseinandersetzung und schärfere Beobachtung des Cerrados erscheint daher auch international notwendig. Der Cerrado umfasst etwa zwei Millionen Quadratkilometer und beschreibt die vielfältigen Formen der zentralbrasilianischen Savannenlandschaft.

Die ökologische Bedeutung

Er ist einer von 34 Hotspots der Biodiversität der Erde mit einer enormen Artenvielfalt: 12.000 Gefäßpflanzenarten (Moose und Algen ausgenommen), während ganz Europa eine fünfmal größere Fläche umfasst und lediglich 9.875 unterschiedliche Gefäßpflanzenarten aufweist. Des Weiteren sind im Cerrado etwa 850 Vogelarten, 267 Reptilienarten, 251 Säugetierarten und 209 Amphibienarten beheimatet. Die Flüsse und Bäche beherbergen bis zu 1.300 unterschiedliche Fischarten und darüber hinaus gibt es mehr als 90.000 Insektenarten. Er beheimatet etwa 5 % des weltweiten Artenreichtums.
Die zwei Kriterien für die Aufnahme in die Hotspot-Liste wurden von Conservation International definiert:
=> 1. Ein Hotspot muss mindestens 1500 endemische Arten von Gefäßpflanzen aufweisen (und damit über 0,5 Prozent der Summe aller auf der Erde) und
=> 2. 70 % ihres ursprünglichen Habitats müssen die Pflanzenarten dort bereits verloren haben. [Anmerkung: Amazonien erfüllt zwar das erste Kriterium aber – zum Glück – nicht das zweite und taucht daher in dieser Liste nicht auf.]
Die soziale Bedeutung
Der Cerrado ist Lebens- und Wirtschaftsraum vieler traditioneller Völker und Gemeinschaften: In ihm leben und wirtschaften etwa 80 indigene Völker in mehr als 100 ausgewiesenen indigenen Territorien, etwa 800 Gemeinschaften der Quilombolas sind bisher bekannt, es gibt mindestens 25 unterscheidbare Kategorien traditioneller Gemeinschaften, die in etwa 3000 Gemeinschaften leben. Alle diese traditionellen Völker und Gemeinschaften sind akut oder potenziell gefährdet. Einige wenige haben garantierte Territorien, die zumindest einen gewissen Schutz garantieren.
Die klimatische Bedeutung
Der Cerrado ist ein großer Kohlenstoffspeicher. In großen Teilen hat er eine vergleichbare Speicherfunktion wie das Amazonasgebiet, allerdings findet die Speicherung insbesondere im Boden statt und nicht in der oberirdischen Vegetation wie in Amazonien. Ein Vergleich verschiedener Cerrado-Vegetationen mit der des Amazonasgebiets zeigt dies: Kohlenstoffspeicherung in der ober- und unterirdischen Pflanzenbiomasse und bis zu 1m im Boden verschiedener Vegetationstypen
Quelle: Abrahão; Nascimento; Brandt in: Gawora 2022, S. 19
Die wirtschaftliche Bedeutung
Der Cerrado ist zentrales land-, vieh- und forstwirtschaftliche Produktionsgebiet. Insbesondere der Sojaanbau expandiert in der Region. Für die brasilianischen Exporteinnahmen ist er eine zentrale Region.
Die ökologische Bedrohung
Die Erschließung bzw. die Vernichtung des Cerrado begann mit der Gründung der Hauptstadt Brasilia (1960). Seitdem sind mehr als 50 % der ursprünglichen Vegetation vernichtet worden. 2022 wurden 10.700 km² Cerrado vernichtet, eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um etwa 20 %, dies sind ca. ein Prozent der verbliebenen ursprünglichen Cerrado-Fläche. Die Abholzungszahlen stiegen besonders in Maranhão, Tocantins, Piauí und Bahia an, und belegt die Verlagerung der Vernichtung der letzten Jahre aus dem südlichen in den nördlichen Teil des Cerrados.
Die soziale Bedrohung
Die ökologische Bedrohung lässt sich nicht von der sozialen Bedrohung trennen. Ökologisch intakter Cerrado wird in großen Teil von traditionellen Völkern und Gemeinschaften bewirtschaftet ohne groß – flächige Eingriffe oder gar Vernichtung der Biodiversität. Unter dem Begriff „traditionelle Völker und Gemeinschaften“ werden in Brasilien neben den indigenen Völkern auch Quilombolas – dies sind die Nachkommen ehemals geflohener Sklav*innen, die ihre Territorien noch bewohnen – und andere schon lange in ihren Territorien lebende traditionelle Gemeinschaften zusammengefasst. Alle diese Gruppen unterscheiden sich kulturell, sozial, zum Teil religiös und spirituell und durch ihre Herkunftsgeschichte. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ihre jeweiligen Territorien nachhaltig bewirtschaften. Durch diese historisch gewachsene Bewirtschaftungsform wurde der Cerrado sehr lange ohne Zerstörung genutzt. Die meisten der Gemeinschaften haben keine juristisch gesicherten Territorien oder Landrechte. Viele stehen daher in akuten Konfliktsituationen. Die massive Expansion von Rinderweidewirtschaft, Sojaanbau und Eukalyptusmonokulturen verdrängt sie – nicht selten gewaltsam – von ihren angestammten Territorien. Viele Gemeinschaften und damit ein wichtiger Teil des kulturellen Erbes Brasiliens, sind in den letzten Jahrzehnten verschwunden.
Die politische Dimension
Mit diesen Rahmenbedingungen ist die neue brasilianische Regierung konfrontiert. Noch ist es allerdings zu früh, die Cerrado-Politik der neuen Regierung Lula zu be – urteilen. Die Situation stellt sich ambivalent dar. Einerseits wurde mit Carlos Fávaro ein Landwirtschaftsminister ernannt, der selbst großer Sojaproduzent und Mitbegründer der überparteilichen Frente Parlamentar da Agropecuária ist, die massiv die Interessen des Agrobusiness im brasilianischen Parlament vertritt. Zudem rechnet die brasilianische Sojaindustrie für das Jahr 2022 erneut mit deutlichen Produktionszuwächsen. Diese Seite der Politik und des Agrobusiness ist bedrohlich. Andererseits wurde das Ministerium für landwirtschaftliche Entwicklung wiederbelebt, dass in den ersten Regierungszeiten der PT-Regierungen eine entscheidende Stütze kleinbäuerlicher Produktion war. Zudem wurde mit der erstmaligen Schaffung eines Ministeriums für indigene Völker und der Ernennung der Ministerin Sônja Guajajara, einer Indigenen aus dem Nord – osten, eine deutliche politische Stärkung indigener Interessen geschaffen. Zu hoffen und zu erwarten ist, dass die administrative Stärkung der Indigenen auch zur Stärkung der Quilombolas und der anderen traditionellen Gemeinschaften führt. Welche Interessen sich in den nächsten Jahren stärker durchsetzen werden, ist noch nicht klar. Beobachten muss man, dass nicht der Cerrado und seine Gemeinschaften zu Verlierern schlechter politischer Kompromisse werden. Nach dem ersten Jahr Lula werden die weitere Ausdehnung der Sojaanbaufläche und die Bilanz der Abholzungszahlen im Cerrado einerseits sowie die Absicherung traditioneller Territorien andererseits, überprüfbare Daten liefern. Sicher erscheint, dass die deutlich unterschiedlichen Ausrichtungen der Ministerien über die Nutzung des Cerrados zu massiven Konflikten innerhalb der Regierung führen. Ob akzeptable Kompromisslinien gefunden werden, ist noch nicht absehbar. Der Cerrado wird mehr als andere Großregionen zum Gradmesser der Neuausrichtung brasilianischer Politik. Quellen: Lit. Gawora, Dieter (Hrsg.): Cerrado. kassel university press 2022. 295 S. (21,- €) Sammelband mit 11 Beiträgen brasilianischer und deutscher Autor*innen unterschiedlicher Fachrichtungen. Auch als pdf downloadbar.
Karte Brasilien, Cerrado: Von Terpsichores – Natural Earth II by Tom Patterson, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22961164

In: FUgE-News Ausgabe 01/2023