02.07.2020: Interkulturarbeit im Regierungsbezirk Arnsberg 2020

Interkulturarbeit im Regierungsbezirk Arnsberg 2020
von Marcos A. da Costa Melo
„Wir haben nur das mitgenommen, was wir anhatten. Wir sind in die Türkei geflohen. Zu Fuß. Etwa einen Monat haben wir gebraucht“. Dies berichtet Abdal Rahman Arrok im Vorfeld der Schulkinovorstellung „Als Hitler das rosa Kaninchenstahl“ am 24. Januar 2020 im Cinemaxx Hamm. Der 15-jährige Geflüchtete aus Syrien erzählte detailliert, wie Assads Bomben 2014 auf seine Heimatstadt Akrab fielen und seine vierköpfige Familie in die Türkeigeflohen ist. Nach mehr als zwei Jahren ging es weiter nach Deutschland. Dieser beindruckende Bericht war einer der Höhepunktemeiner Arbeit als Interkulturpromotor im Regierungsbezirk Arnsberg im Jahr 2020. Die gründliche Vorbereitung zum Vorsprechen vor mehr als 150 Schülern hatte sich gelohnt.
rueckblick-interkultur-1-2020-abdalZuerst sah ich mir mit Abdal, seinem Vater und Freunden den Film „Als Hitler das rosa Kaninchenstahl“ an. In der Buchverfilmung des Romans von Judith Kerr geht es um die kleine Anna, die mit ihrem zwölfjährigen Bruder und ihren Eltern im Jahr 1933 aus Deutschland fliehen muss. Nachdem Wahlsieg Hitlers hofft die Familie, durch die Flucht in die Schweiz und Frankreich einer Verhaftung zu entgehen. Auch Anna und ihre Familie packten das Wenige zusammen und verließen über Nacht Deutschland. Im Anschluss haben wir die vielen Parallelen zwischen Anna und Abdal gezogen. Heraus kam eine authentische Begegnung zwischen der Gegenwart der Flüchtlinge und der deutschen Vergangenheit, von der die Schülerinnen und Schüler im Kino gefangen genommen wurden.

IMG_9464_low_(2)Ein weiterer Höhepunkt der Interkulturarbeit in der Region war die inspirierende Einführung von Katharina Kühn zum Netzwerktreffen für Eine Welt und Interkultur am 5. Februar 2020 im FUgE-Haus Hamm. Sie warnte uns vor eineminflationären und oberflächlichen Gebrauch des Ansatzes „Interkultur“. Sie führte vor Augen, dass wir alle verschiedene Identitäten, aber auch gemeinsame Geschichten und Sozialisierungen durch unsere Familien und Freundeskreise erfahren. Oder anders ausgedrückt: Wir alle sind mehr als eins. Sie plädierte dafür, dass wir das Verbindende durch eine „transkulturelle“ Interkulturarbeit in den Vordergrundrücken, also eine, die die Kategorie der Herkunft überschreitet und uns für eine solidarische Gesellschaft der Vielen einsetzen lässt. Abschließend sagte sie: „Wenn wir Netzwerke bilden, die möglichst viele Menschen mit ihren unterschiedlichen Perspektiven einbinden, und dabei das vielschichtige interkulturelle Beziehungsgeflecht zwischen ihnen in den Blick nehmen, gelingt es uns, gemeinsam an grundlegenden gesellschaftlichen Themen zu arbeiten. Nur so kann eine solidarische und diverse Gesellschaft möglich werden.“ Siehe hierzu auch den Artikel „Neue Allianzen für die Interkulturarbeit“ auf Seite 12 der FUgE news 2/2020.
IMG_9464_low_(13)Weiteres dazu unter Netzwerktreffen für Interkultur und Eine Welt im RB Arnsberg

Einen anderen Ansatz der Interkulturarbeit hatten meine Workshops mit dem Jugendlichen Muhammad Waqas, der seit 2018 über Kinderarbeit und Fluchtursachen und sein damit verbundenes persönliches Schicksal in den Grundschulen und Kindergärtender Region berichtet. muhammad-essener-ruhrpott-internationalEr kommt aus Sialkot/Pakistan, der Hauptstadt der Sportbälle. Acht von zehn handgenähten Fußbällen, rund über 40 Millionen im Jahr, werden dort hergestellt. Ohne ausbeuterische Kinderarbeit wäre es kaum möglich, diese Menge zu produzieren, sagt er. Muhammad reflektiert in den Schulworkshops seine Lebenserfahrung mit den wirtschaftlichen Zwängen und der Not, die zu ausbeuterischer Kinderarbeit in seiner Familie führte. Bis zu seiner Flucht nach Europa 2015 hat er als Kind, zwischen seinem 9. und 14. Lebensjahr, zu Hause und in den Fußballfabriken Bälle genäht. Nach einer elf Monatelangen Odyssee zu Fuß kam er im Sommer 2016 in Deutschland an.
Er weckte durch seine Erfahrungsberichte viel Interesse auch bei den Akteuren der Fairen Metropole Ruhr in der Jahrestagung am 4. Juli 2019 in Duisburg und den Mitgliedern der Steuerungsgruppe der Fairtrade Town Unna in einem Workshop am 9. Oktober 2019 im Rathaus Unna. Die Torwandaktion am 22. September auf dem Eine-Welt- und Umwelttag in Hamm und am 8. Dezember beim Fußballturnier Ruhrpott-International in Essen war durch die leidenschaftliche Beteiligung des Publikums von großem Erfolg gekrönt.
Weiteres dazu unter Schulworkshop über Kinderarbeit und Fußbälle aus Sialkot in Pakistan

gedichte-syrien-afghanistanDie größte Herausforderung der Tätigkeit als Interkulturpromotor im Regierungsbezirk Arnsberg war der Lyrikabend am 10. September 2019 in der VHS Hamm, da eine repräsentative Auswahl von Gedichten und Erzählungen aus Deutschland, Syrien und Afghanistan, auch wegen der vielen Sprachen, schwer zu treffen war. Wurden bei früheren Veranstaltungen mit Menschen aus der syrischen und afghanischen Gemeinschaft vor allem Probleme in den Heimatländern, Flucht und die unterschiedliche Behandlung beider Gruppen durch die deutsche Politikthematisiert, sollte diese Veranstaltung vor allem Gemeinsamkeiten aufzeigen. So stand bei dieser Veranstaltung Lyrik und damit eine verbindende Liebe zu Sprache im Vordergrund.

Die ausgewählten Texte zu Liebe und Kultur wurden in Arabisch, Dari, Deutsch und Kurdisch vorgetragen. Zahlreiche Lebensgeschichten der Dichter und Dichterinnen wurden kommentiert, die Herkunft der Gebräuche hinterfragt, die Einzigartigkeit der Natur in den jeweiligen Ländern erklärt, aber auch der politische Hintergrund der Prosa diskutiert.
Shinwar Melli, der die Erzählung „Integration“ von Willi Grigor auf Kurdisch vortrug, sprach darüber, wie seine Muttersprache sowohl in der Türkei als auch in seiner Heimat Syrien verboten wurde. Claudia Hartig aus Hamm, die Gedichte von Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) vortrug, hat den Einfluss des Werkes Hafis (1315-1390), einer der bekanntesten persischen Dichter, auf Goethe und unsere gemeinsame Literatur hervorgehoben. Prägnant beim Lyrikabend waren die sehr leidenschaftlichen Liebesgedichte, z. B. als Suheil Kadery aus Afghanistan den Dichter Hafis zitierte:
„Sieh, ich sterbe vor Verlangen nach Umarmung und nach Kuss; Sieh, ich sterbe vor Begierde nach des saftigen Munds Genuss; Doch was spreche ich noch länger? Kurz und bündig will ich sein: Komm zurück, denn sieh, ich sterbe schon durch die Erwartung und Pein!“
Als Mahmoud Ez Aldin aus Syrien den Dichter Nizar Qabbani (geb.1923 in Damaskus und gestorben 1998 in London) „Unmögliche Liebe“ vortrug, konnte man den Bezug zur romantischen Liebe der Protagonisten*innen sehr deutlich spüren:
„Ich liebe dich sehr, und ich weiß, dass ich im Meer deiner Augen reisen will. Ich lasse meinen Verstand hinter mir und laufe dem Wahnsinn hinterher. Oh, diese Frau… Sie hat mein Leben in ihren Händen. Ich bitte dich Gott, mich nicht zu verlassen. Was bin ich, wenn du nichtwärst. Ich habe dich sehr, sehr, sehr lieb. Und ich will nicht, dass das Feuermeiner Liebe erlöscht wird. Mir ist egal, ob ich lebend oder tot aus deiner Liebe herauskomme.“
2019-09-10_Gedichte-Syrien-Afghanistan-01Zum Abschluss wurde es sehr emanzipativ, als Moh Bak „Das erste Stück“ von Aisha Arna’ut (geboren 1946 in Damaskus und seit 1978 im Exil in Paris) vorlas. Die Dichterin setzt sich kritisch mit der Lebenssituation der Frauen in Syrien auseinander und tritt mit ihren Gedichten dem Klischee und Schreckensbild von der unter dem Schleier verstummten Araberin entschlossen entgegen:
„Sie wickelten mich in Igelfelle in der leeren Liebesmuschel. Lasst mich irgendein Ball sein in einem Kaleidoskop in den Händen der Kinder. Lasst mich ein reißender Adlersein. Lasst mich an einen fallenden Wassertropfen halten. Doch… entfernt diese Mauernrings um mich her.“
U. a. trugen auch Zahra Behzadpour, Masoumeh Hosseini und Mohibullah Hoshang ihre Lieblingsgedichte in ihren jeweiligen Landessprachen vor.
Weiteres dazu unter Lyrik und Prosa aus Deutschland, Syrien und Afghanistan

FUgE betreibt diese Stelle für interkulturelle Öffnung im RB Arnsberg in Kooperation mit dem Eine Welt Netz NRW und der Engagement Global gGmbH im Auftrag der Landesregierung NRW.